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Warten nach einer Fehlgeburt? Schwangerschaftsstudie widerlegt Empfehlung der WHO

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Die Risiken einer Frühgeburt steigen nicht, wenn Frauen nach einer Fehlgeburt gleich wieder schwanger werden, zeigt eine Studie mit Daten von Zehntausenden Frauen in Norwegen.

(Foto: PantherMedia / Sergiy Tryapitsyn)

Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt, nach einer Fehlgeburt oder einem Schwangerschaftsabbruch mindestens sechs Monate mit einer erneuten Schwangerschaft zu warten. Die Ergebnisse einer aktuellen Studie zeigen hingegen, dass das gar nicht nötig ist. Allerdings bleiben viele Aspekte dabei unberücksichtigt.

Entgegen den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist einer Studie zufolge nach einer Fehlgeburt oder Abtreibung keine längere Wartezeit für eine erneute Schwangerschaft nötig. Das schreiben australische Mediziner im Fachblatt "PLoS Medicine". In der Untersuchung geht es allerdings nur um mögliche körperliche Komplikationen, nicht aber um psychische Aspekte, wie ein deutscher Experte betont.

Die Forscherinnen und Forscher um Gizachew Tessema von der australischen Curtin School of Population Health werteten Daten von mehr als 72.000 Frauen in Norwegen aus, die zwischen 2008 und 2016 ein Kind bekommen hatten. Gut 49.000 von diesen hatten zuvor eine Fehlgeburt erlitten, knapp 23.000 einen Schwangerschaftsabbruch. Die Mediziner analysierten die Daten mit Blick auf sechs mögliche Schwangerschaftskomplikationen, darunter Frühgeburt, spontane Frühgeburt, Präeklampsie und Schwangerschaftsdiabetes. Ebenso wurde erfasst, ob die Babys zu klein (SGA) oder zu groß (LGA) in Bezug auf die Schwangerschaftsdauer waren.

Die Forscher stellten fest, dass eine Empfängnis innerhalb von drei Monaten nach einer Fehlgeburt oder einem Schwangerschaftsabbruch insgesamt nicht mit einem erhöhten Risiko für derartige Komplikationen verbunden ist. Die WHO hingegen rät, nach einer Fehlgeburt oder einer Abtreibung mindestens sechs Monate mit einer erneuten Schwangerschaft zu warten.

Keine Wartezeit bringt offenbar Vorteile

Der Studie zufolge ist das Risiko für zu kleine oder zu leichte Babys (in Bezug auf die Schwangerschaftsdauer) bei einer Zeugung innerhalb von weniger als sechs Monaten nach einer Fehlgeburt sogar geringer als bei einer Wartezeit von sechs bis elf Monaten. Auch das Risiko für Schwangerschaftsdiabetes sei bei Frauen, die in weniger als drei Monaten wieder schwanger wurden, niedriger als bei einer Wartezeit von mehr als sechs Monaten.

Fand die Empfängnis weniger als drei Monate nach einem Schwangerschaftsabbruch statt, bestand allerdings ein leicht erhöhtes, aber nicht signifikantes SGA-Risiko im Vergleich zu einer längeren Wartezeit, während das LGA-Risiko in der Gruppe mit einer Wartezeit zwischen drei und fünf Monaten etwas geringer war.

Die Beobachtungen passen zu den Ergebnissen früherer Studien aus Schottland und den USA. Für die australischen Wissenschaftler stellt ihre Arbeit die WHO-Empfehlung infrage, der zufolge nach einer Fehlgeburt oder einem Schwangerschaftsabbruch sechs Monate gewartet werden sollte.

Daten nicht auf andere Länder übertragbar

Die Empfehlung der WHO basiert vor allem auf einer Studie aus Lateinamerika von 2005, die von einem erhöhten Risiko verschiedener Schwangerschaftskomplikationen berichtet hatte. Hier könnten unter anderem Unterschiede in der medizinischen Versorgung eine Rolle gespielt haben, so die Mutmaßung der australischen Wissenschaftler. Tatsächlich ist aber auch die Aussagekraft der aktuellen Arbeit dadurch beschränkt, dass nur Daten aus Norwegen analysiert wurden, wie die Autoren selbst schreiben: "Da in unserer Studie Daten aus einem einzigen Land mit hohem Einkommen und besserer Gesundheitsversorgung verwendet wurden, können unsere Ergebnisse nicht auf andere Situationen mit anderen Bevölkerungsgruppen übertragen werden."

Eine weitere Limitation spricht Matthias David von der Charité Berlin an: "Psychische Aspekte werden hier leider gar nicht thematisiert." David verweist in diesem Zusammenhang auf mehrere Fachpublikationen, die insbesondere auch die psychische Verarbeitung eines Schwangerschaftsverlusts behandeln: Dieser stelle für die Frau selbst, aber auch für den Partner und das familiäre Umfeld eine besondere Situation dar, die von Verlust, Trauer und Angst hinsichtlich zukünftiger Schwangerschaften geprägt sei.

Trauer wurde nicht berücksichtigt

Die Trauerprozesse könnten in ihrer Intensität und Dauer individuell sehr verschieden sein. Mit anderen Worten: Selbst, wenn körperlich nichts gegen eine schnelle erneute Schwangerschaft spricht, kann der individuelle Trauerprozess psychisch eine längere Wartezeit erfordern - ein Aspekt, der in der aktuellen australischen Studie keine Berücksichtigung findet. "Ich bin davon überzeugt, dass eine Fehlgeburt ein psychosomatisches Ereignis ist, das die betroffene Frau in besonderer Weise (be-)trifft", kommentiert Gynäkologe David. Unabhängig davon fehle es an Forschung zur psychischen Situation von Frauen nach Fehlgeburt oder einer Eileiterschwangerschaft.

David koordiniert bei der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) die "S2k-Leitlinie zu Schwangerschaftsabbruch im ersten Trimenon", die kurz vor der Fertigstellung steht. Darin werde es allerdings keine explizite Empfehlung für einen neuen Schwangerschaftsversuch nach Fehlgeburt oder Abtreibung geben, erklärt er: "Solche Empfehlungen wären dann möglichst evidenzbasiert, sie würden nicht aufgrund einer einzelnen Registerstudie verworfen oder geändert werden."

(Dieser Artikel wurde am Mittwoch, 23. November 2022 erstmals veröffentlicht.)

Quelle: ntv.de, Alice Lanzke, dpa

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