Interview mit Joann Sfar "Die Hamas hat für französische Juden die Tore zur Hölle geöffnet"
26.05.2024, 15:02 Uhr Artikel anhören
"Die Katze des Rabbiners" ist Sfars bekanntestes Werk. Es spielt vor 100 Jahren in Algerien, woher die Familie seines Vaters stammt.
(Foto: Avant-Verlag)
In Frankreich ist Joann Sfar ein Star, als Comiczeichner, Regisseur und Autor. In Deutschland ist er vor allem für seine Reihe "Die Katze des Rabbiners" bekannt - und erhält am kommenden Freitag auf dem Comic-Salon in Erlangen den Max-und-Moritz-Preis für sein Lebenswerk. Doch sein Werk ist keineswegs abgeschlossen, im Gegenteil: In seinen jüngsten Werken beschäftigt sich der 52-Jährige intensiv mit seiner Kindheit, dem Verhältnis zu seinen Eltern, aber auch mit seiner jüdischen Identität und dem grassierenden Antisemitismus in Frankreich. Mit ntv.de spricht er über Anfeindungen, das Massaker der Hamas in Israel - und über die Kraft des Zeichnens.
ntv.de: Die Bücher, die von Ihnen zuletzt in Deutschland erschienen, sind sehr autobiografisch geprägt. In "Die Synagoge" beschreiben Sie auch Ihre schwere Covid-Erkrankung. War das ein Auslöser, sich so intensiv mit dem eigenen Leben auseinanderzusetzen?
Joann Sfar: Absolut. Es war das erste Mal, dass ich in Lebensgefahr schwebte. Da habe ich mich alt gefühlt und gemerkt, dass meine Kindheit lange zurückliegt. Sie ist quasi schon ein historischer Roman. Aber Nizza und die Côte d'Azur zu zeichnen, war eine wahre Freude, denn die Gegend ähnelt stark meinem berühmtesten Buch "Die Katze des Rabbiners", das in Algerien spielt - dazwischen liegt nur das Mittelmeer. Und ob die Handlung nun vor 100 oder 50 Jahren spielt - im Grunde sind beide historische Comics. Es ist ein trauriges Privileg des Alters, dass die eigene Kindheit bereits Geschichte ist.

Joann Sfar wurde 1971 in Nizza geboren. Berühmt wurde er mit Comic-Reihen wie "Die Katze des Rabbiners", "Klezmer" und "Donjon". Seine Comics wurden vielfach prämiert, als Regisseur und Drehbuchautor erhielt er zwei César-Filmpreise. Er ist Officier de l'ordre des Arts et des Lettres.
(Foto: Magali Delporte)
Worum geht es in den autobiografischen Büchern?
In "Die Synagoge" geht es um politischen Aktivismus und die Motivation dafür. Es geht darum, was man tun muss, damit dein Vater stolz auf dich ist. Und es geht um die Gefahr des Mainstream-Extremismus. Denn es ist nutzlos, einen Skinhead zu schlagen. Man sollte stattdessen dafür kämpfen, dass der Mainstream nicht rechtsextrem wählt. In "Der Götzendiener" geht es dann um meine Mutter, die starb, als ich noch sehr jung war. Und es geht um die Frage, warum man Comics macht.
"Die Synagoge" kam in Deutschland kurz nach dem Massaker der Hamas in Israel am 7. Oktober heraus. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?
"Diese Zeit" ist immer noch da, wir stecken immer noch drin, es ist eine pure Tragödie. In dem Moment, in dem die Hamas die vielen Menschen in Israel ermordet hat, gab es einen sprunghaften Anstieg der Anfeindungen gegen jüdische Menschen in Frankreich - laut Regierung war es eine Zunahme um 1000 Prozent. Praktisch jeder Jude wurde Opfer von Anfeindungen. Und das begann, bevor Israel auf den Angriff der Hamas reagierte, es hat damit nichts zu tun. Die Hamas hat für französische Juden die Tore zur Hölle geöffnet. Und wir wissen immer noch nicht, wie wir damit umgehen sollen.

Die Katze des Rabbiners frisst einen Papagei, kann fortan sprechen und führt philosophische Gespräche.
(Foto: Avant-Verlag)
Als berühmter Comiczeichner und Filmemacher stehen Sie in der Öffentlichkeit. Welche Anfeindungen erleben Sie?
Jedes Mal, wenn ich auftrete, im Radio oder im Fernsehen, gibt es unzählige Beleidigungen und Drohungen in meinen sozialen Netzwerken. Insgesamt erleben die französischen Juden eine schreckliche Zeit. Jüdische Studenten, die ich kenne, gehen nicht mehr zur Universität, weil sie wegen des Konflikts quasi Tag und Nacht belästigt werden. Und wenn sie sich beschweren, wird ihnen vorgeworfen, sie würden ihre Trauer nur spielen. Die Situation ist sehr schwierig und ich weiß nicht, wohin sie sich entwickelt. Zumal die Anfeindungen vor allem von jungen Menschen kommen, die keine Ahnung haben, was sie da sagen.
Wird in der Öffentlichkeit über den Antisemitismus diskutiert?
Im französischen Fernsehen sprechen alle die ganze Zeit über Antisemitismus. Viele Persönlichkeiten versuchen, gegen den Hass anzukämpfen. Aber das funktioniert nicht. Wir wissen nicht, wie wir die jungen Leute ansprechen sollen. An Universitäten treffe ich immer wieder Studenten. Im persönlichen Gespräch kann ich sie davon überzeugen, dass das Leben nicht so einfach ist, wie sie es darstellen. Aber wenn man einer Menschenmenge gegenübersteht, kann man nicht gewinnen.

Eine Szene aus "Die Synagoge": Wegen antisemitischer Gewalt bewachte Sfar als Jugendlicher die Synagoge von Nizza.
(Foto: Avant-Verlag)
Schon in Ihrer Jugend haben Sie Antisemitismus erlebt. Heute treten Sie vor allem für eine Verständigung zwischen Juden und Arabern ein. Woher kommt das?
Das kommt aus meiner Jugend in Nizza. Damals war ich stark politisiert, ich würde mich sogar als pro-palästinensischen Studenten und Aktivisten bezeichnen. Unter den damaligen pro-palästinensischen Aktivisten gab es etwa 20 Prozent Juden. Viele von ihnen hatten Familien im Nahen Osten und wollten, dass jeder in Frieden leben kann. Das hat sich stark geändert. Heute wollen pro-palästinensische Aktivisten normalerweise keine Juden bei sich haben. Ich würde heute zusammengeschlagen werden, wenn ich dorthin gehen würde.
In Frankreich ist gerade Ihr neues Buch "Wir werden leben" erschienen. Worum geht es darin?
Darin kommen Juden in Frankreich und Israel zu Wort, aber auch Muslime. Mir geht es dabei um tatsächliche Erfahrungen statt um Symbolpolitik. Denn einige Menschen wiederholen heute nur Parolen, haben aber keinen Kontakt zu Menschen in Israel oder den palästinensischen Gebieten. Ich bin oft in Israel, habe viele jüdische und muslimische Freunde und dadurch einen Einblick in das reale Leben vor Ort. Und ich muss sagen, es gibt dort viel mehr Hoffnung, als es in Europa den Anschein hat. In "Wir werden leben" versuche ich, die bestehenden Klischees zu durchbrechen und das wirkliche Leben im Nahen Osten zu zeigen. Ich versuche, die Stimme der französischen Juden zu sein, die sich in dieser Situation verloren fühlen. Das Buch ist in Frankreich auch sehr erfolgreich, aber den Hass hat es nicht gestoppt.

"Nous Vivrons" (Wir werden leben) ist bisher nur auf Französisch erschienen. Das hebräische Zeichen auf dem Cover bedeutet Chai - Leben.
In dem Buch heißt es, dass sich das Leben der Juden in Frankreich seit dem 7. Oktober von schwierig zu unerträglich gewandelt habe.
Das ist leider das, was wir gerade erleben. Die Interviews, die ich mit französischen Juden geführt habe, waren sehr bedrückend. Sie haben mich an das erinnert, was Stefan Zweig während des Zweiten Weltkriegs geschrieben hat: dass es einen Hass gibt, den man nicht verhindern kann, weil er überall ist.
In einem Interview zu dem Buch haben Sie gesagt, dass man sich als Jude eigentlich nur noch den Ort aussuchen kann, an dem man angegriffen wird. Haben Sie darüber nachgedacht, Frankreich zu verlassen?
Nein, weil man eigentlich nicht französischer sein kann als ich. Und ich bin dankbar dafür, dass es in Frankreich einen öffentlichen Raum gibt, der frei von jeglichem religiösen Extremismus ist. Ohnehin interessiere ich mich nicht für Religion, ich bin ein kultureller Jude. Ich bleibe also in Frankreich und werde weiterkämpfen. Denn die Zukunft liegt in unseren Händen. Die überwältigende Mehrheit der Franzosen will keinen Hass, will keine Massaker. Diese schweigende Mehrheit muss sich zu Wort melden, denn Frankreich verändert sich derzeit - und das nicht zum Besten. Das denken übrigens auch viele Muslime, die mir schreiben.
Kann Zeichnen etwas gegen den Hass tun? Oder ist es wichtiger, mit Menschen zu sprechen?
Es ist letztlich dasselbe. Egal, ob es darum geht, miteinander zu sprechen oder zu zeichnen, oder um Journalismus und Geschichtsschreibung: Am Ende geht es darum, Fake News etwas entgegenzusetzen. Es trifft mich am meisten, wenn junge Menschen auf ihrer Sicht auf den Nahen Osten beharren. Sie wollen nicht hören, was Palästinenser oder Israelis zu sagen haben. Sie wollen nicht diskutieren, sie wollen an ihrem Standpunkt festhalten. Das verdanken wir den sozialen Netzwerken, wo es nur noch um zugespitzte Aussagen und Parolen geht. Ich versuche dagegen, wieder mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. Denn sie wollen nicht, dass die Welt eine Art Twitter-Abgrund wird, sie wollen eine echte Welt mit echten Diskussionen.
Sie sind dafür bekannt, permanent zu zeichnen, die Skizzen veröffentlichen Sie in Büchern oder auf Instagram. In "Der Götzendiener" ist das ein zentrales Thema. Ist Ihnen Zeichnen genauso wichtig wie Atmen?
Absolut. Das Zeichnen hilft mir, mit dem wirklichen Leben zurechtzukommen, es hilft in tragischen Momenten. Zeichnen macht mich glücklich. Eigentlich begann mein Leben erst, als ich damit anfing. Das Zeichnen hat mir geholfen, mit der Traurigkeit umzugehen, als meine Mutter starb, und die Trauer in etwas anderes zu verwandeln. Und das Zeichnen half mir, mit dem Massaker am 7. Oktober umzugehen. Ich habe mir danach Sorgen um die Zukunft des jüdischen Volkes in Europa und auch im Nahen Osten gemacht. Also habe ich angefangen, jüdische Menschen in Frankreich und Israel zu interviewen. Das hat mir geholfen, mit diesem Moment fertig zu werden.
In dem Buch umgehen Sie aber die Frage, ob Sie zu viel zeichnen und damit das wahre Leben verpassen. Haben Sie eine Antwort darauf?
Das ist die zentrale Frage. Darum benutze ich auch das Wort "Götzendienst". Viele antike Religionen und auch Philosophen wie Platon sagen, dass man vor der Realität flieht, wenn man in die Welt der Repräsentation eintaucht. In dem Buch diskutiere ich die Frage, ob meine Zeichnungen der Realität entfliehen oder nicht. Darauf gibt es zwei Antworten: Einerseits muss man im wirklichen Leben zeichnen, unter Menschen, nicht allein in einem Keller. Andererseits muss die Zeichnung von der Realität handeln. Gerade in Zeiten von sozialen Netzwerken und Fake News müssen wir über die Realität diskutieren. Zeichnen kann dabei ein Werkzeug der Wissenschaft sein, wenn es vom wirklichen Leben handelt. Wenn es dagegen die reale Welt verlässt, besteht die Gefahr, dass es wie eine Droge wirkt: Es macht dich glücklich, aber es bedeutet nichts. Diese Frage stelle ich mir jeden Morgen aufs Neue.
Wir leben in einer rasanten Welt, in der soziale Medien permanent Trigger liefern. Die Entstehung eines Comics braucht dagegen Zeit. Ist es heute noch die passende Kunstform?
Das ist eine interessante Frage. Denn die Verkaufszahlen in Frankreich sind immer noch sehr gut. Auch junge Menschen haben eine starke Verbindung zu Comics, sie zeichnen und lesen viel - das ist Teil ihrer Selbstermächtigung. Es geht darum, nicht nur Bilder und Videos zu konsumieren. Wenn man einen Computer oder Papier und Stift hat, kann man seine eigenen Geschichten erzählen. Auf sozialen Netzwerken kann man seine Kunst dann präsentieren. Ich bin also voller Hoffnung, was die Zukunft des Zeichnens und Schreibens betrifft.
Mit Joann Sfar sprach Markus Lippold.
Die Werke von Joann Sfar sind in Deutschland bei Avant und Reprodukt erschienen. Im Erlanger Stadtmuseum ist vom 30. Mai bis zum 1. September eine große Retrospektive über Sfars Werk zu sehen. Auf dem am Donnerstag beginnenden Comic-Salon in Erlangen gibt es zudem ein Künstlergespräch, Signierstunden und weitere Veranstaltungen mit Sfar.
Quelle: ntv.de