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Comics aus dem vollen Leben "Sie können nicht die ganze Welt schlagen"

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Der junge Ersin Karabulut liest einfach gern Comics.

Der junge Ersin Karabulut liest einfach gern Comics.

(Foto: Carlsen Verlag 2023)

Ein türkischer Comiczeichner muss sich Repressalien erwehren. Ein französischer Kollege will es mit allen Antisemiten und Rechtsextremen aufnehmen. Ein Mann besucht eine Stätte der größten Gräueltaten. Und eine junge Frau erlebt die große Freiheit nach dem Mauerfall. Vier Comics, die eines gemeinsam haben: Protagonisten, die versuchen, in einer gewaltätigen Welt zu überleben.

Was darf Satire?

Was steht der Pressefreiheit in der Türkei noch bevor?

Was steht der Pressefreiheit in der Türkei noch bevor?

(Foto: Carlsen Verlag 2023)

Die Türkei hat eine lange und erfolgreiche Satire-Tradition. Zeitschriften wie "LeMan", "Penguen" und "Uykusuz" waren und sind in dem Land sehr beliebt. Für letztere arbeitet auch Ersin Karabulut, der zu den bekanntesten Zeichnern der jüngeren Generation gehört. In "Das Tagebuch der Unruhe" (Leseprobe), einer auf drei Bände angelegte Reihe, gibt er Einblick in sein Leben, seine Liebe zu Comics und seine beginnende Karriere. Er schildert daneben aber auch die politische Entwicklung der Türkei und den zunehmenden Druck, dem die Magazine ausgesetzt sind.

Der Band besticht durch seinen Humor, durch überzeichnete Figuren und slapstickhafte Szenen, in denen sich Karabulut nicht zuletzt selbst genüsslich durch den Kakao zieht. Gleichzeitig ist der Zeichner aber ein genauer Beobachter gesellschaftlicher Entwicklungen, die er mal subtil, mal sehr offen thematisiert: die chaotischen, gewalttätigen 70er Jahre - vor Karabuluts Geburt 1981 -, die Militärputsche, die wachsende Macht religiöser Eiferer und rechtsextremer Schläger und schließlich der Aufstieg der AKP und Recep Tayyip Erdogans.

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Das Tagebuch der Unruhe
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Karabulut gelingt ein Nebeneinander von lustigen und ernsten Tönen, von Privatleben und Politik, weil gerade bei ihm als Satiriker beides stetig ineinandergreift. Dabei erweist er sich nicht nur als begnadeter Zeichner, der die Gestaltung von Mimik und Gestik perfekt beherrscht, sondern auch als großer Humorist. Der Band endet mit seinem Auszug bei den Eltern, um sie vor den zunehmenden Drohungen durch religiöse Kräfte zu schützen. Und mit einem Blick auf das, was in den Folgebänden kommt: Erdogans Weg zur Macht und der stetige Umbau des Staates, zu dem auch der zunehmende Druck auf die Pressefreiheit gehört.

Deine Gewalt ist nur ein stummer Schrei nach Liebe

Sfar gerät in eine Demonstration der Front National, als diese noch wesentlich radikaler auftrat.

Sfar gerät in eine Demonstration der Front National, als diese noch wesentlich radikaler auftrat.

(Foto: Avant-Verlag 2023)

Zu den bekanntesten französischen Künstlern gehört Joann Sfar. Der Vielschreiber hat etliche Comics vorgelegt, aber auch Romane und Filme. Aber selten war Sfar so persönlich wie in seinem neuen Werk "Die Synagoge" (Leseprobe). Wie Karabulut bettet er autobiographische Erlebnisse in gesellschaftliche Entwicklungen ein. In diesem Falle ist das der zunehmende Antisemitismus im Frankreich der 80er Jahre, der unter anderem dazu führt, dass Wachtrupps der Gemeinden die Synagogen beschützen müssen. Sfar, Nachkomme sowohl aschkenasischer als auch sephardischer Juden, gehört dazu - weil er so nicht den langweiligen Gottesdiensten in seiner Gemeinde in Nizza beiwohnen muss.

Dass bei diesen Wachdiensten nichts passiert, stellt Sfar gleich zu Beginn fest. Aber ausgehend von dieser Situation erinnert sich Sfar an seine Kindheit, an seinen Vater - einen alleinerziehenden, erfolgreichen Anwalt, der vor Gericht gegen Neonazis vorgeht - und an seine eigenen Erlebnisse mit Antisemiten und Rechtsextremen. Letztlich geht es um die Frage, wie Juden sicher leben können. Und was Sfar, der nicht religiös ist, sein Jüdisch-sein bedeutet. Kann man sich rächen an den Nazis und Antisemiten, kann man sie alle verprügeln - Sfar nimmt als junger Mann extra Kung-Fu-Stunden. Auch wenn es vor allem um die 80er und 90er Jahre in Frankreich geht - natürlich ist Sfars Buch angesichts des wieder wachsenden Antisemitismus hochaktuell. Und die grundlegende Fragestellung seines Buches bleibt unbeantwortet. Das ist deprimierend.

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Was aber nicht heißt, dass Sfars Buch nicht ebenso amüsant ist, wenn auch wesentlich subtiler und ironischer als Karabulut. Vor allem die eigene jugendliche Selbstüberschätzung nimmt Sfar auseinander. Seine Begegnungen mit Neonazis enden nie so heroisch wie er sich das vorgestellt hat. Überhaupt ist "Die Synagoge" ein wilder (an einigen Stellen zu lang geratener) Ritt, mit Zeitsprüngen und sich überlagernden Erinnerungen und Gedanken. Und Fantasien. Deshalb lässt er am Ende ausgerechnet den Partisanen Abba Kovner auftreten, der sagt: "Sie können nicht die ganze Welt schlagen, aber nichts verbietet Ihnen, mit ihr zu sprechen." Mit seinen Comicreihen "Die Katze des Rabbiners" und "Klezmer" (beide bei Avant) hat Sfar seine Sprache längst gefunden.

Durch die Hölle

Der Gang durch das Konzentrationslager weckt Erinnerungen.

Der Gang durch das Konzentrationslager weckt Erinnerungen.

(Foto: Schaltzeit-Verlag 2023)

"Nekropolis" - Totenstadt. So hat der slowenische Autor Boris Pahor sein wohl bekanntestes Buch genannt. Pahor, der als Partisanenkämpfer die Konzentrationslager Dachau, Natzweiler-Struthof, Mittelbau-Dora und Bergen-Belsen überlebte, lässt darin Jahrzehnte nach der Befreiung einen KZ-Überlebenden durch das Lager Natzweiler-Struthof laufen und sich dabei an die Gräuel erinnern, die er dort erlebte. Jurij Devetak hat das Buch als Comic adaptiert (Leseprobe). Pahor selbst hat das Projekt noch begleitet, bevor er im vergangenen Jahr 108-jährig starb.

Dem Thema angepasst ist die Darstellung in schroffem Schwarz-Weiß. Die Panelstruktur wird immer wieder aufgebrochen mit ein- oder doppelseitigen Darstellungen. Und die Gesichter der Menschen sind nicht erkennbar, teils verwischt. Zu viele wurden hier ermordet, namenlos, ihrer Würde beraubt. Selbst das Gesicht des Protagonisten ist nicht vollständig sichtbar, verdeckt durch Schiebermütze und Brille.

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Nekropolis
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Der Text, ein innerer Monolog dieses Mannes, ist aus der Vorlage übernommen und beschreibt die Gräuel, Erinnerungen an Lagerkameraden oder die Brutalität der Wachen. Und das ist teilweise kaum zu ertragen. Zusammen mit den Zeichnungen ergibt sich auf knapp 160 Seiten ein ungemein verdichteter, nahezu dokumentarischer Blick auf das Leben in einem KZ. Nichts bietet hier Erlösung, nichts lenkt von den Schrecken der deutschen Gewaltherrschaft ab. Ein Schlag in die Magengrube, gegen das Vergessen.

Der Westen in Farbe

Der goldene Westen? Nein, aber farbiger als Ost-Berlin ist er hier schon.

Der goldene Westen? Nein, aber farbiger als Ost-Berlin ist er hier schon.

(Foto: Sandra Rummler / Avant-Verlag 2023)

Nicht schwarz-weiß, aber grau und trist ist die Welt, wie sie Sandra Rummler in "Seid Befreit" (Leseprobe) beschreibt. Es ist das Ost-Berlin der 80er Jahre, in dem die junge Mo lebt. Heruntergekommene Häuser und Fahnenappell - so kann man das zusammenfassen. Doch für Mo gibt es auch Freuden wie die Nachmittage mir ihrer Großmutter oder Entdeckungen in den Hinterhöfen. Mo beginnt, aus dem vom System vorgegebenen Weg auszubrechen. Bis die Mauer fällt - und die große Freiheit lockt.

"Zonenkinder" hat Jana Hensel ihren Roman über jene Generation genannt, die ihre Kindheit in der DDR, aber die Jugend im wiedervereinigten Deutschland erlebt hat. So ein Zonenkind ist Mo und sie genießt die neu gewonnene Freiheit mit vollen Zügen, etwa als S-Bahn-Surferin, trotz Vorurteilen gegen Ostdeutsche und Neonazis - es sind auch die Baseballschlägerjahre.

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Seid befreit
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Die Spannung erhält der Comic aus dem Kontrast zwischen den Hintergründen, die zunächst düster und in dunklen Tönen gehalten sind, und den Figuren, die bunt und gleichförmig, nahezu schablonenhaft, im Vordergrund stehen. Erst nach dem Mauerfall kommt etwas mehr Farbe in die Welt - als Ausdruck der gewonnenen Möglichkeiten. Gleichzeitig verleihen sie dem Comic aber auch mehr Unruhe, mehr Unsicherheit, wie sie viele ehemalige DDR-Bürger in den 90er Jahren erleben mussten. Mo aber lässt ihre Kindheit hinter sich, auch wenn sie mitunter dem Verlust der Heimat ihrer Kindheit nachtrauert.

Quelle: ntv.de

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