Wirtschaftswunder und Hass Ein tiefer Blick in die Seele der Nachkriegsdeutschen


"Deutschland versteckt sich nicht vor anderen: Es versteckt sich vor sich selbst", schreibt der italienische Schriftsteller Levi über seine Deutschlandreise.
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Der italienische Schriftsteller Carlo Levi besuchte 1958 beruflich die Bundesrepublik und schrieb darüber ein Buch. Die feinfühlige Bestandsaufnahme geht noch heute in Mark und Bein. Selten war einem Nachkriegsdeutschland atmosphärisch und menschlich so nah.
"Faust und Hitler" war eine der ungefähr 600 Ideen, die Carlo Levi als möglichen Titel für sein Buch über eine Reise durch Nachkriegsdeutschland erwogen haben soll. Der Vorschlag lag nahe: Das Werk dreht sich um scharfe Kontraste und Gegensätze. Der auf dem Gebiet der Kunst hochgebildete Italiener wusste um Deutschland als Ort sowohl der Dichter und Denker als auch der Barbaren und Massenmörder. Am Ende entschied sich Levi für "Die doppelte Nacht". Der Titel bezieht sich auf Zeilen aus dem zweiten Teil von Goethes "Faust", in dem eine Gestalt der griechischen Mythologie Zeuge einer von Mephisto veranlassten Brandstiftung wird: "Funkenblicke seh ich sprühen / Durch der Linden Doppelnacht".
Levi verknüpft also das diabolische Gebaren der fiktiven Figur mit dem realen Teufelswerk Hitlers. Gleich vorn heißt es in seinem Bericht: "Funkenblicke sprühten durch der Linden Doppelnacht, das Wahre ist im teuflischen Selbstmord zugrunde gegangen." Schon nach den ersten der rund 150 Seiten des Buches wird man begreifen, dass Levi nicht allein das Spannungsfeld zwischen genialer Schöpferkraft und absoluter Zerstörung meinte. Ihm gelang ein sprachlich grandioser Versuch, das Wesen und die Seele der Nachkriegsdeutschen zu ergründen. Wobei von größtmöglichem Misstrauen und Voreingenommenheit auszugehen ist.
Levi stammte aus einer wohlhabenden jüdischen Familie, war Antifaschist, erst inhaftiert, ehe ihn Mussolini in die Verbannung in ein Dorf in der Basilikata im Süden Italiens schicken ließ. Seine Erinnerungen über jene Zeit hielt der Schriftsteller in dem stark autobiografischen Roman "Christus kam nur bis Eboli" fest, der ihn weltberühmt machte. Es hatte denn auch rein berufliche Gründe, dass Levi im Winter 1958 zum ersten Mal in seinem Leben nach Deutschland fuhr. Er besuchte unter anderem München, das frühere KZ Dachau, in dem Vertriebene untergebracht waren, Augsburg, Stuttgart, Frankfurt und Berlin, das Levi auch ohne Mauer - sie wurde knapp drei Jahre später errichtet - als "mitleiderregende Schwestern der inneren Unfreiheit" erlebte. Zu den politisch "halbierten Welten" hielt er fest: "Jeder der beiden Teile scheint das gewählt zu haben, was der andere verschmäht hat."
Ein "wahrer Roman"
Berlin und das hautnahe Studium des Kalten Krieges gehörten zum letzten Akt der Reise. Bald nach der Heimkehr schrieb Levi seinen Bericht nieder, der in Italien schon 1959 herauskam. Deutschland musste warten: Erst jetzt veröffentlichte ihn der Verlag C.H. Beck in wunderbarer Übersetzung des Althistorikers Martin Hallmannsecker. Warum er wenige Jahre nach Kriegsende keine Chance hatte, auf Deutsch zu erscheinen, ist klar: Levi nutzte seine Beobachtungsgabe und sein Einfühlungsvermögen für eine Bestandsaufnahme, die noch heute in Mark und Bein geht. Selten ist einem das Nachkriegsdeutschland atmosphärisch und menschlich so nah gebracht worden wie in "Die doppelte Nacht".
Levi, der auch Kunstmaler war und sich dem Realismus verschrieben hatte, nannte sein Buch einen "wahren Roman". Ob er alles genauso erlebt oder Passagen verfremdet und Protagonisten erfunden hat, sei also dahingestellt. Letztlich ist es auch egal. Vor allem sind es die scharfen Kontraste, die der Italiener in feiner, manchmal lakonischer, aber stets sanfter Tonalität beschrieb, was sie nur noch verstärkt. Hier ein idyllisches Dorf, dort eine Stadt in Trümmern. "Unschuldiger Reichtum" traf auf Armut, Gemütlichkeit auf Unbehagen, Aufbruch auf Abbruch. Eben bestaunte Levi prall gefüllte Schaufenster in München, ehe er, der fließend Deutsch konnte, mit Gestrandeten, Säufern, Versehrten, Unglücklichen und Depressiven redete: Menschen, die das Wirtschaftswunder noch nicht erreicht hatte.
Der Gast aus dem Lande Mussolinis verzichtete auf jede Anklage, geschweige denn, dass er verurteilte. Er beschränkte sich auf die Erzählung seiner Eindrücke und Erlebnisse. Oft vermittelt die Lektüre trotz der warmherzigen Sprache den Eindruck von Kälte - nicht allein wegen der Winterszeit. Levi nahm mit feinen Sensoren offene und verkappte, bewusste und unterbewusste Verdrängung wahr. Die Deutschen, ein "offenherziges und zutrauliches Volk", schienen ihm "völlig ohne Geheimnisse, ohne Argwohn, ohne Schamhaftigkeit zu sein" und keine Anstalten zu machen, ihre jüngste Vergangenheit zu verbergen, um - so sieht es jedenfalls Levi - das gerade bezogene Kartenhaus der Behaglichkeit nicht ins Wanken zu bringen. "Deutschland versteckt sich nicht vor anderen: Es versteckt sich vor sich selbst."
Allgegenwärtige Ambivalenz
Was nicht heißt, dass er Deutschland und seiner Bevölkerung (ver)traut. Ihr bescheinigt er in einem Ausflug in die Tiefenpsychologie eine "betörende Fragmentiertheit". "Das Fehlen von Einheit im Inneren ist die Voraussetzung, die Deutschland zum Protagonisten einer globalen Krise gemacht hat", heißt es. "Da es den Deutschen unmöglich ist, den Menschen als Ganzes zu umfassen, und somit auch Liebe (außer jene tödliche als Tristan-Mythos) und Freiheit unmöglich sind, bleiben ihnen als Äquivalent der Liebe nur Selbstmord, in seiner Ausprägung als totale Gemeinschaft ein Selbstmord, der die Zerstörung der Welt mit sich bringt, oder Mord, das Lager, in dem 'Arbeit frei macht' als verdrehte, neidische, embryonale Version der Freiheit."
Das meint Levi, wenn er gleich eingangs in Anlehnung an Goethes Verse schreibt: "Funkenblicke sprühten durch der Linden Doppelnacht, das Wahre ist im teuflischen Selbstmord zugrunde gegangen." Nationalsozialistisches Gedankengut und Nazi-Verehrung waren ja nicht plötzlich weg. Eine dem Alkohol zugeneigte Frau namens Frida zitierte er so: "Alle haben ein Lächeln auf den Lippen, aber es gibt hier nur Hass. Alle werden reicher und geben sich menschlich, aber es sind immer noch dieselben wie früher. Meine Brüder waren fürchterliche Nazis, heute sind sie immer noch Nazis." Ein Mann wollte den Verantwortlichen für das Unheil in der Welt kennen: "Gott ist schuld: Denn Gott ist Jude."
Die Ambivalenz ist in dem Bericht allgegenwärtig, weshalb sein Verfasser ein Urteil über Deutschland und eine Prognose über dessen Zukunft ablehnte. Einerseits "kann selbst der größten Unmenschlichkeit eine neue Zeit der Menschlichkeit entsprießen", meinte Levi zu Recht. Zugleich vernahm er wieder den Schlachtruf der Nazis: "Deutschland erwache!" - "Auf die Gefahr hin, dass die Schlafende, wie eine unsanft geweckte Schlafwandlerin, ihre Augen mit einem wahnsinnigen grausamen Todesschrei aufschlägt."
Quelle: ntv.de