Politik

"Die Flakhelfer" 50 Tonnen NSDAP-Akten und viel Verdrängung

Luftwaffenhelfer im Sommer 1944.

Luftwaffenhelfer im Sommer 1944.

(Foto: Wikipedia / Magnus Manske)

Zwischen 1926 und 1928 geboren, groß geworden mit NS-Propaganda: Einige der führenden Köpfe Nachkriegsdeutschlands gehörten zu "Hitlers letzten Helden". Sie waren NSDAP-Mitglieder, haben das allerdings verdrängt. Eine zerrissene Generation, die sich noch immer an ihre Lebensmythen klammert.

"Und sie werden nicht mehr frei ihr ganzes Leben." So formulierte Adolf Hitler 1938 in einer Rede seine Idee der totalen Vereinnahmung von Jungen und Mädchen durch den NS-Staat. Und er hat Recht behalten. Die Enthüllung, dass prominente Bundesbürger wie Erhard Eppler oder Walter Jens Mitglieder der NSDAP waren, sorgt auch fast 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges jedes Mal für einen medialen Paukenschlag. Und führt unausweichlich zu der Frage: Erst verführte Jugendliche im Nazideutschland, dann engagierte Demokraten in der Bundesrepublik - wie passt das zusammen?

Autor Malte Herwig.

Autor Malte Herwig.

(Foto: Dominik Rößler)

Die Antwort darauf sucht Malte Herwig, der sich seit Jahren als Journalist und Historiker mit diesem Thema beschäftigt. In seinem klugen und mutigen Buch "Die Flakhelfer" zeichnet er das Bild einer zerrissenen Generation, die sich ihr Leben lang an der dunklen Vergangenheit abgearbeitet hat. Für sein Buch hat er mit Zeitzeugen gesprochen, sich durch Archive gearbeitet - und die 10,7 Millionen Karten umfassende Mitgliederkartei der NSDAP gesichtet.

Dass der eine oder andere Name von ehemaligen Parteigenossen an die Öffentlichkeit gelangte, daran war er nicht unbeteiligt. Seine Entdeckungen lesen sich wie das Who's who der politischen und künstlerischen Elite Nachkriegsdeutschlands: Hans-Dietrich Genscher, Horst Ehmke, Walter Jens, Dieter Hildebrandt, Siegfried Lenz, Peter Boenisch, Tankred Dorst, Günther Grass (der in der Waffen-SS war) und viele mehr.

"Schuldlos-schuldige Verstrickung"

Sie alle gehören der sogenannten Flakhelfer-Generation an: Geboren um die Jahre 1926 bis 1928, wurden sie ab 1943 als "Hitlers letzte Helden" an der Heimatfront eingesetzt, um den Niedergang des Nationalsozialismus' herauszuzögern. Das Ende des "Dritten Reichs" erschütterte sie, die mit Führerkult, Kriegseuphorie und "Die Fahne flattert uns voraus" aufgewachsen waren, in ihren Grundfesten. Ihre Verunsicherung kanalisierten sie, indem sie mit ungeheurem Elan dafür sorgten, dass eine zivile Nachkriegsgesellschaft entstehen konnte, sie wurden zu führenden Köpfen der Bundesrepublik, zum Gewissen der Nation, gar zur moralischen Instanz.

Allerdings ging das nicht ohne einen Trick des Gedächtnisses: Verdrängung. Die ehemaligen Flakhelfer verleugneten aus Scham ihre eigene "schuldlos-schuldige Verstrickung" in das barbarische NS-System. Und bis heute wollen oder können sich die noch lebenden Zeitzeugen fast ausnahmslos vor allem an eines nicht erinnern: ihren Eintritt in die Hitlerpartei.

Das Buch ist bei der DVA erschienen und kostet 22,99 Euro.

Das Buch ist bei der DVA erschienen und kostet 22,99 Euro.

Nur wenige sind bereit, ihrem Lebenslauf nachträglich den Fakt der NSDAP-Mitgliedschaft hinzuzufügen, wie beispielsweise der im September verstorbene Schriftsteller Erich Loest. Er bekennt gegenüber Herwig: "Ich muss wohl unterschrieben haben." Alle anderen vom Autor besuchten Betroffenen geben an "keinen Aufnahmeantrag unterschrieben" zu haben (Genscher), sich "überhaupt nicht erinnern" zu können (Dieter Wellershoff) oder sind sich sicher, dass es sich um eine "phantomatische Mitgliedschaft" handeln müsse, eine "Finte" der Nazis, womit Hans Werner Henze auf die häufig angeführte These anspielt, halbe Jahrgänge der Hitlerjugend seien ohne ihr Wissen in die Partei aufgenommen worden.

Herwigs Buch ist deswegen ein großartiger Beitrag zum Umgang mit einem dunklen Kapitel deutscher Geschichte, weil es die Flakhelfer-Generation - "zu jung, um Täter zu werden, aber zu alt, um dem Schuldzusammenhang des 'Dritten Reiches' zu entkommen" - zu keinem Zeitpunkt skandalisiert. Herwig sucht nicht nach Schuld oder Schuldigen, tritt nicht als Ankläger auf. Er nähert sich seinen Gesprächspartnern mit Empathie, versucht sie zu verstehen, ihre Erinnerungslücken zu erklären. Aber er fordert auch die Wahrheit.

Kollektivaufnahmen gab es nicht

Eine davon: Kollektivaufnahmen in die Hitlerpartei hat es nicht gegeben. Die NSDAP habe sich als elitäre Partei verstanden, die nicht jeden in ihren Reihen haben wollte, ohne eigenhändig unterschriebenen Aufnahmeantrag hätte daher niemand Mitglied werden können. Bei der Erklärung der Mitgliedschaft durch unwissentliche Massenbeitritte, die bereits kurz nach dem Zweiten Weltkrieg aufkam und auch heute noch unter Feuilletonisten und Historikern verbreitet ist, handelt es sich Herwig zufolge um eine reine Schutzbehauptung, für die jegliche Beweise fehlen.

Auch die Ersatz-Mitgliedskarte von Hitler befindet sich im NSDAP-Archiv des Berlin Document Center.

Auch die Ersatz-Mitgliedskarte von Hitler befindet sich im NSDAP-Archiv des Berlin Document Center.

(Foto: picture-alliance / dpa/dpaweb)

Und Herwig räumt mit einem weiteren Mythos auf. Er erzählt die spannende Geschichte von den 10,7 Millionen Mitglieder-Karteikarten, von einem SS-Kommando, das 20 Lastwagen voll mit der brisanten Fracht zu einer Papiermühle brachte, von einem Müller, der die Vernichtung der Akten verweigerte und von den US-Amerikanern, die jahrzehntelang auf "50 Tonnen politischem Sprengstoff" saßen, der jederzeit explodieren konnte - weswegen sie einige NSDAP-Mitgliedsnachweise, darunter angeblich die Namen von 70 damals aktiven Politikern, vorsorglich in einem "Giftschrank" verwahrten.

Erst 1994, nachdem mit Genscher der letzte Politiker mit NSDAP-Vergangenheit aus der Regierung ausgeschieden war, ging das "Berlin Document Center" an Deutschland zurück. Eigentlich hatten die US-Amerikaner die Akten schon in den 60er Jahren abgeben wollen. Aber die jeweiligen deutschen Regierungen taktierten und schoben dem Bündnispartner immer wieder den Schwarzen Peter zu. Offiziell hieß es, die Rückgabe scheitere an technischen Problemen beziehungsweise werde von den Amerikanern verhindert. Dabei hatten die deutschen Politiker einfach nur Angst, die Büchse der Pandora in Händen zu halten.

Eine Gesellschaft muss das aushalten

Angst ist auch ein wichtiges Stichwort für das Vergessen und Verdrängen von Ehmke, Walser und den anderen "Flakhelfern". Ihnen, den jungen Opfern einer perfiden Propaganda, kann man nicht vorwerfen, mehr oder weniger freiwillig der NSDAP beigetreten zu sein. Warum also verschwiegen sie ihre Mitgliedschaft? Es sei die Angst vor Stigmatisierung, vor "moralischer Inhaftnahme", schreibt Herwig; die Angst, dass der Makel 'NSDAP-Mitglied' die Lebensleistung entwerte und als brauner Fleck am Lebenslauf kleben bleibe. Und genau an diesem Punkt kommen die Nachgeborenen ins Spiel.

Auch die lässt Herwig, 1972 geboren und damit ein Vertreter der Enkelgeneration, in seinem Buch nicht außen vor. Er geht mit ihnen vielmehr hart ins Gericht, wenn er schreibt: "Dass auch gebrochene Biografien lehrreich und vorbildlich sein können, passt nicht ins Dogma dieser nachgeborenen Hohepriester bundesdeutscher Vergangenheitsbewältigung."

Ja, es ist schwer zu ertragen, dass intelligente Menschen der Verführung der Nationalsozialisten erlagen. Wie einfach wäre es, könnte alles in Schwarz und Weiß eingeteilt werden - hier Hitler, da Stauffenberg. Aber so funktioniert Geschichte nicht. Es gibt eben auch die vielen unterschiedlichen Grauschattierungen. Das muss eine Gesellschaft aushalten, denn, so Herwig, "die Erinnerung ist kein Wunschkonzert, das gilt für Überlebende wie Nachgeborene gleichermaßen."

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Quelle: ntv.de

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