Doku über Giftanschlag Nawalny malt "die Dummheit des Systems" aus

Alexej Nawalnys Geschichte sendet Schockwellen weit über Russland hinaus. Fast zwei Jahre nach seiner Vergiftung und mehr als ein Jahr nach seiner Verhaftung kommt nun der schlicht "Nawalny" betitelte Dokumentarfilm über den russischen Oppositionspolitiker ins Kino. Ein Film über Liebe, Widerstand und Dummheit.
In Russland gibt es eine Geschichte, die für "die Dummheit des Systems" steht, erklärt Alexej Nawalny in dem neuen Dokumentarfilm über sein Leben. Die Geschichte heißt "Moskau vier". Der russische Oppositionspolitiker steht vor einer Pinnwand, die ein Spinnennetz aus russischen Geheimdienstmitarbeitern zeigt. Der Geschichte zufolge wurde das E-Mail-Konto des russischen Geheimdienstchefs mehrmals gehackt. Beim ersten Mal hieß sein Passwort "Moskau eins". Beim zweiten Mal lautete das Passwort "Moskau zwei". Sein drittes Passwort war "Moskau drei". "Und jetzt rate, wie sein viertes Passwort lautete", sagt Nawalny und grinst.
Wenn man Nawalny fragen würde, gäbe es in Russland eine zweite Geschichte, die für die Dummheit des Systems stehen könnte: seine eigene. Dem sonst so eloquenten Meister der Kommunikation fiel nur ein einziger Satz ein, als er nach der Vergiftung aus dem Koma erwachte und erfuhr, was mit ihm passiert war: "Meine Fresse. Das ist doch so was von dumm." Diese Geschichte über Dummheit - aber auch die brutale und skrupellose Art von Putin - erzählt der kanadische Regisseur Daniel Roher in dem Dokumentarfilm "Nawalny".
Die Liebesgeschichte
Seine Vergiftung hielt die Welt in Atem. Die Handyaufnahmen von Nawalny, wie er im Flugzeug von Sibirien nach Moskau schreit, gingen viral. Während die Doku viele neue Einblicke und Bilder über das Leben des russischen Oppositionspolitikers liefert, werden keine neuen Bilder aus dieser Zeit - zwischen Vergiftung und Genesung in der Berliner Charité - gezeigt. Und das liegt daran, dass sie nicht existieren.
Nawalnys Frau, Julia Nawalnaja, hatte Fotos von ihm in diesem Zustand so gut es ging verhindert. Nicht einmal sie selbst habe Fotos oder Videos von ihm auf der Intensivstation aufgenommen, heißt es. "Ich hatte, ehrlich gesagt, große Angst, das könnten die letzten Bilder von ihm sein", erzählt sie im Film. "Ich und alle anderen sollten ihn anders in Erinnerung behalten." Nawalnaja rekonstruiert mit ihrer nüchternen, fast abstoßenden Art die Stunden, in denen sie um das Leben ihres Mannes fürchtete.
Wie seine Frau hat auch Nawalny eine besondere Art, mit der Tatsache umzugehen, dass er vom russischen Regime beinahe umgebracht wurde. Anstatt sich in Fassungslosigkeit zu verlieren, macht er mit seiner Tochter lustige TikTok-Videos über die Ermittlungen zu seinem Mordversuch und muss ihr dabei noch erklären, wie man die Kurzvideos schneidet. Er lacht und fragt: "Wer ist hier 19?"
Diese intimen Einblicke in Nawalnys Leben zwischen Freiheit in Süddeutschland und Gefängnis in Russland zeichnen den Film aus. Denn Nawalnys Geschichte schreibt sich praktisch von selbst: ein Politthriller, der selbst als Spielfilm zu übertrieben gewesen wäre. Doch Roher gelingt es, einen neuen Faden durch Nawalnys Leben zu ziehen. Roher bringt die Leidenschaft, mit der nicht nur der russische Politiker selbst, sondern auch seine Familie und sein Team ihre Arbeit machen, mit überzeugender Klarheit auf die Leinwand.
Die umstrittene Seite
Die natürliche Spannung, die Nawalnys Geschichte innewohnt, versucht Roher mit Rückblenden in die Kindheit des Oppositionspolitikers aufzulockern. In seiner Familie, erzählt Nawalny, sei von klein auf über Politik geredet worden. Vor allem nach der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl wurde immer häufiger über politische Korruption und Geheimnisse in Russland gesprochen. Nawalny habe damals dasselbe Gefühl gehabt wie heute: "Ich sehe unseren politischen Führer im Fernsehen und er sieht mir in die Augen und lügt mich an".
Zwar sind diese Einblicke und Erzählungen aus früheren Zeiten interessant. Allerdings gelingen Roher die Einschübe mal besser, mal schlechter. Oft kommen sie etwas unpassend, fast platzend daher. Sie sind zu kurz erzählt und erfüllen nicht ihren Zweck: Aus Nawalny eine runde Figur zu machen, ihn als mehr als nur einen Helden der russischen Oppositionspolitik darzustellen. Und das fehlt.
Denn Nawalny ist eine vielschichtige und auch umstrittene Persönlichkeit, die nicht nur in einem positiven Licht dargestellt werden kann. Der Film thematisiert zwar Nawalnys Teilnahme am sogenannten "Russischen Marsch" in Moskau im Jahr 2012. Seine Reaktion auf den Marsch an der Seite von Nazis hinterlässt den Eindruck, dass er sich nicht um die Vorwürfe schert, mit nationalistischen und rassistischen Gruppen in Verbindung gebracht zu werden. "In einer normalen Welt, in einem normalen politischen System, wäre ich natürlich niemals in einer politischen Partei mit ihnen", erklärt ein passionierter Nawalny. Mit seinen strahlend blauen Augen blickt er in die Kamera und sagt: "Aber wir bilden eine breiter aufgestellte Koalition, um das Regime zu bekämpfen."
Aber die Vorwürfe gehen weiter, als nur an der Seite von Nationalisten zu stehen oder mit Rassisten zu marschieren. In einem 2007 von der nationalistischen Bewegung "Das Volk" veröffentlichten Video befürwortete Nawalny den Waffenbesitz und rief zur Gewalt gegen Islamisten auf. Im Jahr 2008 beschimpfte er in seinem Blog Georgier als "Nagetiere" und forderte ihre Abschiebung aus Russland. In seinem Wahlprogramm für die Wahl des Moskauer Bürgermeisters 2013 sprach er sich für eine Begrenzung des Zuzugs von Ausländern aus. All diese Vorwürfe werden in dem Film nicht erwähnt.
"Wer ist der Dümmste?"
Stattdessen konzentriert sich der Film größtenteils auf die Monate, bevor Nawalny nach Russland zurückfliegt und verhaftet wird. Und obwohl das Ende der Nawalny-Saga kein Geheimnis ist, schafft es Roher, die Spannung im Film aufzubauen und den Zuschauer bis zum Schluss zu fesseln.
Der Höhepunkt des Films liegt nicht in der Vergiftung und auch nicht in der Verhaftung. Er kommt mit dem inzwischen legendären Telefonat mit einem russischen FSB-Mitarbeiter, der die Geschichte der Vergiftung ausplaudert. Dank des Enthüllungsjournalisten Christo Grozev von Bellingcat oder, wie Nawalny ihn nennt, "der bulgarische Nerd mit einem Laptop", konnten rund 20 Männer eines Attentatsteams identifiziert werden.
Im Film steht ein unruhiger Nawalny vor einer Pinnwand, an der die Bilder des Attentatsteams hängen. Er zappelt und grinst, seine glasigen blauen Augen glitzern vor Aufregung, während er mit Grozev den Plan ausmalt. "Wer ist der Dümmste?", fragt Nawalny. "Ich denke, wir versuchen am besten, die Dummen aufs Glatteis zu führen." Und genau das tun sie auch. Was folgt, ist ein Gespräch, das niemand glauben würde, wenn es nicht aufgezeichnet wäre.
"Gebt nicht auf"
Die Veröffentlichung von "Nawalny" erfolgt zu einem ganz besonderen Zeitpunkt. Der russische Angriffskrieg verursacht seit nunmehr 70 Tagen unvorstellbares Leid in der Ukraine. Die Opposition in Russland ist seit Ausbruch des Krieges massiv unter Druck gesetzt worden. Das Wort "Krieg" im Zusammenhang mit der Ukraine ist in Russland inzwischen ein Grund zur Verhaftung. Fast alle unabhängigen Medien wurden zur Schließung gezwungen.
Nawalnys größter Feind scheint in diesen Zeiten nur noch stärker zu werden. Und inzwischen sitzt er, der einzige Oppositionspolitiker, der vielleicht noch einen Hoffnungsschimmer hatte, Putin zu bekämpfen, im Gefängnis. Aber auf dieses Szenario und auf das seines Todes ist Nawalny vorbereitet: "Gebt nicht auf. Das dürft ihr nicht. Wenn man mich getötet hat, dann heißt das, dass wir im Moment unglaublich stark sind." Mit Charisma, Leidenschaft und einer unglaublichen Überzeugung erklärt er weiter: "Sonst hätten sie mich nicht getötet."
"Nawalny" läuft ab sofort in den deutschen Kinos.
Quelle: ntv.de