Dreck, Armut, Alkohol Das Elend, das Katar mit aller Macht versteckt
17.12.2022, 07:21 Uhr
Die Unterkünfte der Arbeiter in der Industrial Area vor den Toren Dohas in Katar sollen versteckt bleiben.
(Foto: David Bedürftig)
Eingepfercht zu siebt in einem Zimmer leben Arbeiter in Katars Industrial Area. Staub, Müll, Armut: Hier gibt es kein Glitzer und keine WM, sondern Leid und Angst. Und Alkohol unterm Ladentisch. Ein Bericht aus dem Elendsviertel, das niemand zu Gesicht bekommen soll.
Die sechs Inder lachen. Ihr Kumpel schläft, als sie ihrem Gast ihr stickiges, heruntergekommenes Zimmer zeigen, in dem sie zu siebt eingepfercht hausen. Müde wälzt sich der Schlafende herum. Blickt verdutzt in die Runde - und lacht mit. Es ist eine abstruse Situation. Gejauchze in unfassbarem Elend. Aberwitzig. Und doch so sinnbildlich für die krassen Gegensätze in Katar. Der reichsten Nation der Erde. Dem Ausrichter der pompösen, schillernden Fußball-WM 2022. Dem Land des Glitzers, der funkelnden Hochhäuser, der riesigen Shopping Malls - und der unglaublichen, versteckten Armut.
Zwölf Quadratmeter. Fünf zentimeterdünne Matratzen. Eng an eng, direkt nebeneinander auf dem Boden. Dünne Decken, ein paar alte Kissen. Kein Tisch, kein Stuhl, kein Fenster, kein Spiegel. Eine kleine Spüle, ein Kühlschrank, eine elektronische Herdplatte mit zwei alten Töpfen und einem Sieb. Daneben stehen sieben Zahnbürsten in einem Joghurtbecher. Ein kleiner Schrein für den gestaltlosen Schöpfergott der Sikh-Religion, der die sieben Inder angehören, und ein paar an einem Nagel aufgehängte Turbane zieren die ansonsten kahlen Wände. Es stinkt nach jungen Männern, ungewaschenem Bettzeug und verbrauchter Luft. Die notdürftig in der Ecke installierte Mini-Klimaanlage läuft nicht.
Die jungen Männer wohnen in einer der vielen Unterkünfte in der so genannten Industrial Area von Katar. Gute dreißig Autominuten außerhalb von Doha. Hier leben die Bauarbeiter, die die WM-Stadien, Hochhäuser und Straßen bauen, die Taxifahrer, die westliche Touristen und Fußball-Fans durch die Glitzerwelten von Lusail und The Pearl kutschieren und die Kellner, Köche und Sicherheitsleute, die in den edlen Fünf-Sterne-Restaurants und Hotels der katarischen Hauptstadt arbeiten. Sie kommen aus Indien, Bangladesch, Nepal, Sri Lanka, Pakistan, den Philippinen, dem Sudan oder Ägypten.
Schmierfett und Baustellenschutt
Elend, Staub, Müll. Das Straßenbild der Industrial Area ist trostlos. Laute Kreissägen, noch lautere, vorbeidonnernde Trucks. Ein abgemagerter Hund, der im Dreck nach Essen sucht, eine verdreckte Katze, die vor jedem Fußgänger zurückschreckt. Überfüllte Müllcontainer flankieren kleine, ungeteerte Straßen. "Made in Turkey" steht auf ihnen geschrieben. Kuschelige Bürgersteige, riesige Shoppingmals oder Fußball-Merchandise? Nein, die WM ist hier weit weg.
Jemanden zu finden, der bereit ist, mit einem Journalisten zu sprechen und seine Unterkunft zu zeigen, gestaltet sich zunächst kompliziert. Zwar sind viele Arbeiter - ausschließlich Männer, die Klamotten vom Schmierfett der Werkstätten oder vom Schutt der Baustellen verdreckt - auf den Straßen unterwegs, aber die meisten wiegeln leicht verschüchtert ab. Der Anblick eines Europäers auf den Straßen sorgt für Verwunderung. Andere sprechen kein Englisch. Ein Pakistaner, der gerade ein wenig Gemüse in einem der kleinen Kiosks an den Straßenecken eingekauft hat, würde gerne, aber seine fünf Zimmer-Mitbewohner hätten Nachtschicht und würden jetzt schlafen. Eine Art lokaler Boss, ein älterer Inder, lädt dann aber zunächst in seinen halb zusammenfallenden Nissan ein und anschließend in den Betonklotz.
Vor dem Betreten des Zimmers der sieben Sikhs, allesamt in T-Shirts und kurzen Hosen, werden die Schuhe vor der dünnen Plastiktür abgestreift. "Setz dich", sagt Arjan, und deutet auf die Matratzen. Sein Cousin Ranveer und die anderen nehmen ebenfalls Platz. Das Leben in ihrem Zuhause findet im Liegen oder im Schneidersitz statt. Die Matratze ist derart wenig spürbar, als säße man direkt auf Beton. Arjan, 28 Jahre alt, arbeitet seit acht Jahren als Taxifahrer in Katar, Ranveer fährt ebenfalls, aber noch nicht so lange. Deshalb sprechen beide - das ist Voraussetzung für den Job - ein wenig Englisch. Sie übersetzen für ihre Freunde. Einer steht auf und bereitet Tee zu, serviert ihn in Metalbechern. Zu viel Zucker für einen Deutschen. Wieder Gelächter. "Wir Punjabs lieben Zucker", freut sich Ranveer.
Bei den Gesprächen vergeht den jungen Männern das Lachen. Der Blick senkt sich betrübt auf den Boden, wenn sie über die Familien in der Heimat reden. Arjan hat einen einjährigen Sohn, den er noch nie gesehen hat und den er erst in einem Jahr zu Gesicht bekommen wird. Ranveer hat vor kurzem geheiratet, seine Frau in der Heimat kannte er vor der Hochzeit gerade einmal einen Monat lang.
Keine Privatsphäre, keine Menschlichkeit
Die Sikhs reichen Süßigkeiten herum. Ihre tiefe Trauer und Verzweiflung hinter der Fassade des Lächelns ist eindrücklich spürbar. Lachen wird zum Mittel, um mit den schwierigen Umständen irgendwie fertig zu werden. Mentale Probleme sind unter Arbeitsmigrantinnen und -migraten weit verbreitet. "Natürlich ist die Unterkunft nicht gut", sagt Arjan, "aber es gibt schlechtere". Immerhin verstünde man sich mit allen auf dem Zimmer und im Haus gut. Einer spielt mit einem Deck Spielkarten herum, mischt sie immer wieder durch.
Etwa 550 Menschen wohnen in ihrem vierstöckigen Betonklotz. Fünf bis sieben pro Zimmer. Pro Stockwerk gibt es eine verdreckte Toilette und eine abgenutzte Küchenzeile. Im Erdgeschoss dann noch einige Duschen. Das Ganze hat etwas von Viehstall mit etlichen Gehegen, so wenig Privatsphäre und Menschlichkeit bietet der Ort. Es dämmert und viele Arbeiter kehren von ihren Schichten heim, ziehen sich im Hof unter um die Hüften gebundenen Handtüchern aus und um. Die dreckige Arbeitskleidung aus, lockere Badeshorts an. Raus aus den schweren Bauarbeiterstiefeln, rein in alte Flip-Flops.
Schicke Cafés wie am Souq Waqif oder Edelrestaurants wie auf der Glitzer-Halbinsel The Pearl, die in Doha den WM-Fans eine Welt des Spektakels und Prunks bieten, gibt es hier nicht. In der Industrial Area wird nichts vorgegaukelt. Stattdessen stehen abgewetzte Sofas, Bagger und Autowracks am Straßenrand. Fliegen, die in der Hochhäuser-Hauptstadt ausgemerzt sind, weil Arbeitsmigranten jeglichen Müll sofort entfernen, schwirren herum. Das einzige kleine Restaurant weit und breit bietet den Arbeitern Reis und Hähnchen ohne Besteck an. Vor dem Häuschen steht ein Waschbecken mit Seifengemisch in einer vergilbten Wasserflasche.
Während FIFA und Katar sich mit Fortschritten für die Arbeiterinnen und Arbeiter brüsten, einen "Vermächtnis-Fonds" für Entschädigungen einrichten (den Menschenrechtsorganisationen als unzureichend kritisieren) und die WM als die beste aller Zeiten abfeiern, hängen Kabel, die als Wäscheleinen dienen, mit Unterhosen, T-Shirts und Handtüchern vor den Zimmern von Arjan, Ranveer und Co. Sie erinnern auf perfide Weise an die vielen kleinen WM-Fähnchen, die in Doha die Boulevards zieren. Unten vor dem Erdgeschoss stehen abgewetzte Sofas, eine Reihe mit Waschmaschinen und ein Wasserspender mit mehreren Hähnen. Nebenan rumpelt lautstark eine Betonfabrik. Gegenüber liegt ein Schrottplatz. Die armselige Gegend, in der jedes Haus entweder Industrie oder einer der vielstöckigen Arbeiterklötze ist, macht die Worte der FIFA- und Regierungsoffiziellen zu holen Parolen.
"Es geht immer nur ums Geld"
1700 Riyal kostet das kleine Zimmer der Sikhs pro Monat, umgerechnet etwa 460 Euro. Zu siebt zahlt jeder bei einem Monatsgehalt von etwa 250 Euro - das ist der 2021 eingeführte Monatsmindestlohn (immerhin der erste in der Golfregion) - immer noch 65 Euro für die heruntergekommene Bleibe. Dementsprechend können Arjan und Ranveer kaum Geld für die Familie in der Heimat beiseitelegen. "Das ist hart", geben sie zu. Allerdings: "In Katar ist es immer noch besser als in Indien. Dort gibt es nur Korruption und keinerlei Jobs. Deshalb sind wir ja hier."
Die Männer wissen, dass das Leben für sie nicht fair verläuft. Sie spüren es jeden Tag. Dennoch sind sie es gewöhnt, sich nicht zu beschweren. Das könnte sie in Katar den Job kosten. Und womöglich sogar das Visum. Angst regiert unter Arbeitenden. Und Bares. "Wir brauchen Geld", sagt Arjan und reibt den Daumen und den Zeigefinger aneinander. "Es geht immer nur ums Geld." Schweigen.

Vorne Fabrik, hinten Wohnklotz: Alltag in der Industrial Area in der Nähe von Doha.
(Foto: David Bedürftig)
Nur einer aus der Runde arbeitet auf dem Bau, er ist Kranfahrer. Den anderen sind derart Jobs "zu gefährlich". Sie kennen die Geschichten von verunglückten oder zusammenbrechenden Bauarbeitern genau. "Im Sommer ist es hier einfach viel zu heiß." Einer, der gerade erst zwei Wochen in Katar ist, macht deshalb direkt als erstes seinen Führerschein. Das dauert drei bis vier Monate. Kostenpunkt: bis zu 1000 Euro. Die ersten Jahre zahlen Wanderarbeiter in Katar oft nur Geld zurück, das sie sich irgendwo geliehen haben, und nehmen selbst überhaupt nichts ein.
Illegaler Alkoholkauf
Wieder ein Blick auf die staubigen Straßen. In manchen der kleinen Shops, so heißt es vor Ort, soll es unter der Theke Alkohol zu kaufen geben. Bier, Wein und Schnaps ist in Katar verboten. Nur ausgewählte 5-Sterne-Hotels und reiche Europäer können eine spezielle Lizenz erwerben. Arbeiter in der Industrial Area sollen aber teilweise ihren Schmerz und ihr Leid in Hochprozentigem ertränken und sogar unter Alkoholismus leiden. Auf Nachfrage guckt der etwa 60-jährige indische Kioskbesitzer kritisch. Misstrauen. Er schaut auf den Boden, überlegt, und schüttelt mit dem Kopf.
Nächster Versuch mit zwei jüngeren Männern vor dem Laden. Auch sie überlegen, welche Antwort nun die richtige wäre. Aber in dem Moment eilt der alte Besitzer herbei und weiß plötzlich Bescheid. Er deutet zur nächsten Straßenecke, zum "roten Schild". Da gäbe es Alkohol "underground". Er gestikuliert mit der einen Hand unter der anderen.
Das rote Schild entpuppt sich als eine der etlichen Autowerkstätten. Drei Nepalesen sitzen vor mehreren auseinandergeschraubten Vehikeln. Bei der Frage nach Alkohol grinsen sie verlegen und schauen einander an. Auch bei ihnen schwingt Angst mit, sie vertrauen dem Fremden nicht. Aber sie heißen ihn sofort willkommen und bieten einen Sitzplatz an. 20, 14 und 12 Jahre arbeiten sie schon in Katar. Einer sogar seit zwei Jahrzehnten in dieser Werkstatt, er wohnt zwischen Schrott und Autoreifen in einem kleinen Container. Seine Wäsche hat er auf einer Leine zwischen den Fahrzeugen gespannt.
Die drei Männer finden Thomas Müller und Lionel Messi toll. Einen Fernseher für die WM-Spiele haben sie nicht. Nachdem Vertrauen aufgebaut ist, kommt wieder das Thema Alkohol auf den Tisch. Katar sei sehr strikt, in Nepal würden 95 Prozent der Leute trinken, sagen sie schließlich. Und tatsächlich könne in der Werkstatt illegal Alkohol gekauft werden. Aber: "Not today", entschuldigen sie sich.
Katar versteckt Leid mit Glitzer
Zurück im Wohnblock, wo sie nach den WM-Spielen nur ehrfürchtig fragen. Diese Welt ist so weit von ihrer entfernt, dass sie daran keinen Gedanken verschwenden können. Die jungen Männer sagen Fotos von sich und ihrem Zimmer zunächst zu. Aber Rajan interveniert. Das könne große Probleme geben und Strafen mit sich bringen, weil Katar es verbietet, die Unterkünfte, die Viehställe, der Arbeiter zu zeigen. Angst regiert. Verabschiedungen per Handschlag. Kein Lachen.
Der Rückweg in die Glitzerwelt von Doha mit den öffentlichen Verkehrsmitteln ist nicht einfach. Die nächste U-Bahn ist zu Fuß anderthalb Stunden entfernt. Keine FIFA-Helfenden. Kein "Metro This Way". So werden die Arbeitsmigranten vom öffentlichen Leben außerhalb der Industrial Area komplett ausgeschlossen. Ein klassisches Ghetto in einer strikten Klassengesellschaft. Es soll sich auch bloß niemand in die Industrial Area verirren. Die katarische Regierung will die verbotene Stadt, das Leid vor den Toren der Metropole, vor Touristen, Journalisten und Katarern mit aller Macht verstecken, um den Schein des Perfekten zu wahren. Um die unfassbare Ungleichbehandlung zu verbergen. Um mit pompösem Reichtum das Grauen der Armut zu überstrahlen.
Die Nacht bricht über Katar herein. Wolkenkratzer, Hotels und Malls funkeln von Weitem am Horizont. Irgendwann erscheinen am Straßenrand wieder Palmen, Grasflächen, Bäume, Grün. All das gibt es in Industrial Area nicht. Nur Staub, Elend, Dreck, Lärm. Mitten im reichsten Land der Erde.
Quelle: ntv.de