Fußball

Nagelsmann verändert Statik Mit Kapitän Gündoğan endet die DFB-Dominanz des FC Bayern

Kapitän İlkay Gündoğan trifft zum 1:1 gegen die USA.

Kapitän İlkay Gündoğan trifft zum 1:1 gegen die USA.

(Foto: picture alliance/dpa/AP)

İlkay Gündoğan wird das DFB-Team bei der EM 2024 auf den Platz führen. Ausgerechnet der ehemalige Trainer des FC Bayern München stellt damit gleich zwei Spieler des Rekordmeisters vor neue Herausforderungen. Joshua Kimmich und Manuel Neuer müssen ihre Rollen neu finden.

Das 3:1 der Nationalmannschaft gegen die USA hat tatsächlich so etwas wie Aufbruchsstimmung ausgelöst. Auf den Tag genau acht Monate vor dem Eröffnungsspiel der Europameisterschaft 2024 gelang der Auswahl von Neu-Bundestrainer Julian Nagelsmann somit etwas, mit dem noch Anfang September niemand gerechnet hatte. "Man hat wieder eine Mannschaft gesehen, die leidenschaftlich Fußball gespielt hat", sagt Philipp Lahm, der Turnierdirektor der EM 2024, und fordert: "Jetzt muss ein Kern, ein Gesicht entstehen, um eine erfolgreiche Europameisterschaft zu spielen."

Das Turnier im kommenden Sommer ist bereits jetzt von Veranstalterseite mit Erwartungen überfrachtet. "Gerade in der jetzigen Zeit ist es sehr gut, dass wir dieses Turnier haben. Denn ich weiß nicht, mit welcher anderen Maßnahme man so viele Menschen aus unterschiedlichen Ländern an einem Ort zusammenbekommt", sagt EM-Botschafterin Celia Sasic über das kommende Turnier: "Diese Chance zu sehen und diese Chance zu begreifen, ist sehr wertvoll. Wir wollen das verbindende Element in den Vordergrund stellen."

Vor diesem Hintergrund sind auch die aktuellen Ergebnisse in den USA zu betrachten. Denn nur mit einer erfolgreichen DFB-Elf kann es überhaupt gelingen, aus dem Land heraus eine Euphorie für das Turnier zu generieren. Zu zerrissen wirkt auch das eigene Land. Auch hier, so die Hoffnungen der Organisatoren, soll der Fußball kitten, was in den letzten Jahren auseinandergedriftet ist. Das Sommermärchen 2006 ist Vorbild und Ansporn. Damals, und damit zurück zu den sportlichen Dingen, war der deutsche Fußball ähnlich am Boden wie er sich bis September 2023 in den bleiernen Jahren nach dem Gewinn der WM 2014 präsentierte.

Die Graugänse holen sich Bundestrainer Flick

Klar, da war das zufällig erreichte WM-Finale 2002 bei der WM in Japan und Südkorea, doch sonst war da nichts weiter als der freie Fall nach dem EM-Triumph im Jahr 1996. Mit Jürgen Klinsmann und seinem Assistenten Joachim Löw begann eine neue Zeit, aber auch erst nach dem späten 1:0 durch Oliver Neuville im zweiten Gruppenspiel der WM 2006. Plötzlich schien die Sonne über Deutschland und bis zur geisterhaften Stille nach dem verlorenen Halbfinale gegen Italien blieb es so. Vier Jahre später in Südafrika erreichte das Team von Löw seinen fußballerischen Höhepunkt, acht Jahre später seinen sportlichen.

Der "Reboot" des deutschen Fußballs war erfolgt und erfolgreich abgeschlossen, ein Software-Update gab es nicht mehr. Mit Hansi Flick wurde für die Nationalmannschaft nach dem Aus von Löw, wenn man so will, nur ein Backup aufgespielt. Flick war Teil des Reboots, mit dem FC Bayern unter Pandemiebedingungen zu überraschendem Welterfolg gekommen und dann gnadenlos abstürzte. Als sein Weg an den Ufern des Mittellandkanals endet, ist sein Ruf auch dank der zeitgleich erschienen Amazon-Doku zur WM 2022 in Katar vollständig ruiniert. Die Graugänse, die dort im Emirat als Motivation dienen sollen, packen ihn und entschwinden im Formationsflug in Richtung Süden, bevor der Winter sie einholt.

Der "Wahnsinn" Gündoğan

Dann die Wende gleich im ersten Spiel unter Interims-Bundestrainer Rudi Völler. Nicht dabei ist Joshua Kimmich, der sich angeschlagen durch die Niederlage gegen Japan mühte und jetzt nicht mehr kann. Auch gegen die USA steht der Star des FC Bayern München nicht zur Verfügung. Er ist erkältet. In seiner Abwesenheit glänzt Pascal Groß von Brighton & Hove Albion. Der 32-Jährige hat in der Bundesliga mal für Ingolstadt gespielt, ist seit Jahren ein Gesicht des kometenhaften Aufstiegs des Südküstenteams in der englischen Premier League.

Groß hatte es schon unter Flick in den Kader geschafft. Was dem alten Bundestrainer im September jedoch noch als Verzweiflungstat ausgelegt wird, ergibt unter Nagelsmann Sinn. Als defensiver Sechser hält er İlkay Gündoğan den Rücken frei. Der ist seit über einem Jahrzehnt auf der Suche nach seiner Rolle im DFB-Team. Er findet sie nie, ganz anders als bei seinem ehemaligen Klub Manchester City, den er in diesem Sommer als Kapitän zum Gewinn der Champions League führt. Und der jetzt von Nagelsmann mit einer Schlüsselspielergarantie ausgestattet wird. Der gebürtige Gelsenkirchener soll die Nationalmannschaft im Juni 2024 als Kapitän auf das Feld führen. "Wahnsinn", sagt Nagelsmann nach dem Sieg gegen die USA über die Leistung seines Spielführers.

Die Garantie für den Barcelona-Spieler bedeutet auch: Nicht mehr für Gündoğan muss eine Rolle gefunden werden, sondern jetzt für Kimmich, der sich selbst auf einer ähnlichen Position sieht. Nicht auf der "Holding Six", die in diesem Sommer bei den Bayern so lange diskutiert wurde, sondern ein Stück weiter vorne. Es ist kompliziert und auch mehr als eine Momentaufnahme. Noch beschwichtigt Nagelsmann alle. Ausgerechnet dem ehemaligen Bayern-Trainer droht eine Diskussion über den Bayern-Block. Gegen die USA starten mit Jamal Musiala und Leroy Sané nur zwei Spieler des Abo-Meisters.

Wohin mit Joshua Kimmich?

Weil Gündoğan Kapitän bleibt, wird es auch der eventuelle Rückkehrer Manuel Neuer nicht leicht haben. Das Verhältnis zwischen dem Neu-Bundestrainer und dem Kapitän des FC Bayern München ist ohnehin massiv belastet. Zu schwer wiegen die Worte von Neuer, die er nach seiner Verletzung in seinem bemerkenswerten Interview mit der "Süddeutschen Zeitung" sagte. Neben Neuer fällt auch Leon Goretzka, lange Zeit das soziale Gewissen der Nationalelf, ab. Nagelsmann hat sich auf Gündoğan festgelegt und es ist nur logisch, dass er ihm nach hinten den Rücken freihält. Vorteil Pascal Groß, vielleicht auch Vorteil Robert Andrich.

"Generell gilt für alle Spieler das Leistungsprinzip, für Josh auch. Es gibt keinen Trainer auf der Welt, der auf die besten verzichtet. Das ist normal. Es gibt vielleicht eine kleine Anpassung an den Gegner", sagt Nagelsmann nun vor dem Spiel gegen Mexiko (Mittwoch, 2 Uhr/ARD und im Liveticker auf ntv.de). Zwei Spiele hat die DFB-Elf in Folge gewonnen, zweimal hat Kimmich nicht gespielt. Er läuft Gefahr als ein Symbol für das Scheitern einer Generation herauszustechen. Immer wieder wird seine Position infrage gestellt. Bei den Bayern müht er sich um Anerkennung. Er sei ehrgeizig bis zum letzten, er wolle, dass eine Mannschaft funktioniert und lasse sein Leben auf dem Rasen, heißt es, wenn man sein Umfeld befragt. Und doch funktioniert es auf einmal ohne ihn.

"Wir bringen es fertig, sogar solch einen Typ noch infrage zu stellen. Wir sollten eher froh sein, so einen zu haben", sagt Matthias Sammer zuletzt über ihn. In seinem Umfeld wird er gerne mit dem Europameister Sammer verglichen. Der heutige Berater von Borussia Dortmund trieb seine Mannschaften immer wieder an und ließ tatsächlich seine Karriere auf dem Platz. Kurz nach dem Gewinn der Champions League 1997 endete sein Weg als aktiver Spieler. Sein letztes Spiel absolvierte er im Oktober 1997 auf der Alm in Bielefeld. Danach schickte der Europameister seinen von Verletzungen zerschundenen Körper schon im Alter von 30 Jahren in den fußballerischen Ruhestand.

"Ich möchte die besten Spieler auf dem Feld haben, bei denen ich das Gefühl habe, sie passen für den jeweiligen Gegner am besten und erhöhen die Wahrscheinlichkeit für Siege", sagt Nagelsmann. Dessen Aufgabe ist es ebenfalls, die klaffenden Löcher in der deutschen Defensive zu schließen - und die beginnt nicht erst in der Viererkette. Schon in der Zentrale darf nichts passieren. Dort muss ein Stoppschild stehen.

Eine kleine Revolution

"Josh ist ein wichtiger Spieler, den ich lange kenne, der sowohl bei den Bayern als auch beim DFB eine tragende Rolle spielt und es ist sehr ärgerlich für ihn, dass er erkältet ist und krank ist", sagt Nagelsmann. "Es ist sehr ärgerlich für ihn, dass er auch schon das Frankreich-Spiel verpasst hat. Das sind drei Spiele, die er nicht machen konnte. Da ärgert er sich am meisten drüber. Es ist wichtig, dass er wieder gesund wird und seine Leistungen bringt, wie zuletzt beim FC Bayern." Im November gegen die Türkei und in Österreich werde er wieder im Kader stehen, wenn alles normal läuft, sagt der Bundestrainer.

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Ob jedoch eine Nominierung ausreichen wird, um in die Mittelfeldzentrale der Nationalmannschaft zurückzukehren, ist vor dem Spiel gegen Mexiko umstrittener als je zuvor. Anders könnte es auf der Position des Rechtsverteidigers aussehen. Dort könnte er sich in den Dienst der Mannschaft stellen. Die traditionelle Problemstelle des deutschen Spiels, die Außenverteidiger, ist noch unbesetzt. Kimmich hat dort in der Vergangenheit überzeugen können und war bereits im letzten Spiel unter Flick dort erneut aufgelaufen.

Die Aufbruchsstimmung nach dem 3:1 gegen die USA hat, bei genauerer Betrachtung, also auch für kleine Schockwellen im deutschen Fußball gesorgt. Der ehemalige Trainer des FC Bayern München hat die Blockbildung beendet. Der Rekordmeister stellt nicht mehr automatisch die wichtigsten Nationalspieler. Das Team ist vielfältiger geworden. Wenn jetzt, wie Lahm fordert, das Gesicht der Nationalmannschaft entsteht, dann wird es auch im Sommer 2024 darauf hinauslaufen. Es wäre eine kleine Revolution.

Quelle: ntv.de

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