
(Foto: IMAGO/Schüler)
Es waren magische Wochen, als Deutschland bei der WM 2006 ein "Sommermärchen" feierte. Angesichts der trüben Aktualität ist es nur verständlich, dass Hansi Flick und Rudi Völler an diese Zeit erinnern. Doch auf das, was der Klinsmann-Elf zuvor widerfuhr, würden sie bestimmt gerne verzichten.
"Grinsi Klinsi. Was gibt's da zu lachen?" Es war der Morgen nach dem Desaster von Florenz. 4:1 hatte die italienische Nationalmannschaft eine völlig indiskutabel aufspielende deutsche Elf Anfang März 2006 aus dem Stadion "Artemio Franchi" geschossen - und ein ganzes Land in eine sportliche Schockstarre versetzt. Die "Bild" titelte damals neben dem Foto eines scheinbar immer noch fröhlichen DFB-Coachs erbarmungslos: "Fußball-Deutschland liegt 98 Tage vor der WM am Boden. Und was macht Bundestrainer Jürgen Klinsmann (41)? Grinst und kichert im TV und bei der Pressekonferenz."
Knapp 17 Jahre später erinnerte der heutige Bundestrainer Hansi Flick vor ein paar Tagen genau an diese Momente der kollektiven Verzweiflung: "Damals hat man im März 1:4 in Italien verloren und es war eine wahnsinnig negative Stimmung. Trotzdem ist es ein Sommermärchen geworden." Angesichts der - vorsichtig ausgedrückt - ausbaufähigen Leistungen der deutschen Nationalmannschaft in diesen Tagen liegt ein Vergleich mit der Situation von 2006 nahe.
Doch obwohl damals die sportliche Lage fast noch dramatischer war als heute, konnte sich am Ende nicht nur die DFB-Elf berappeln. Vorausgegangen war auch eine Art kollektiver Zusammenschluss im Land - angestoßen von wichtigen Personen des öffentlichen Lebens. Ohne den vielfach heraufbeschworenen "nationalen Kraftakt" wäre es vermutlich auch auf dem Platz schwierig für die deutsche Nationalmannschaft geworden.
Calmund ist fast durchgehend ekstatisch
Und deshalb ist es ebenfalls nicht verwunderlich, dass Rudi Völler auf eine "Euphoriewelle" von Politik, Fans und Wirtschaft hofft: "Wir möchten, dass das ganze Land hinter dem Turnier steht. Viele haben noch gar nicht begriffen, welch eine Riesennummer die EM werden wird, ähnlich wie 2006, unser Sommermärchen." Damals, vor 17 Jahren, ragte ganz besonders ein Mann heraus, der unermüdlich durch Deutschland fuhr - und seine Mission mit so viel Hingabe verfolgte, dass er mehrmals am Tag seine Hemden wechseln musste. Denn Reiner Calmund war im Frühjahr 2006 fast durchgehend in Ekstase.
Nur noch zwei Monate waren es damals bis zur Weltmeisterschaft im eigenen Land und die Stimmung in Deutschland war katastrophal. Auf dem "Internationalen Fankongress" Anfang April 2006 in Bonn dominierten die langen Gesichter - und was machte Calli? Der fuchtelte wild mit den Armen durch die Lüfte und warb in einem fulminanten Redeschwall für ein Turnier, das damals in einem kollektiven Desaster zu enden drohte. Auf und abseits des Platzes.
Doch Reiner Calmund hatte das Land und die WM noch nicht aufgegeben: "Es ist wichtig, dass wir uns bei einer solchen Weltmeisterschaft auch einmal darstellen können. Als nette Menschen, einfach gastfreundschaftlich mit Herz. Hinterher soll man sagen: Da bin ich gerne hingegangen. Weil die Menschen nett sind und nicht jeder Parkwächter, der ne Mütze aufhat, denkt, er wäre Offizier und sagt, linksrum, rechtsrum, stopp!"
"Der soll hierherkommen", schimpfte Uli Hoeneß
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Was eigenartig anmutet, war damals Ausdruck einer beängstigend schlechten Stimmung im Land. Der deutsche Fußball lag spätestens nach der völlig desolaten Europameisterschaft 2004 am Boden. Und auch der Wechsel von Teamchef Rudi Völler hin zu Jürgen Klinsmann hatte nur kurz für Aufbruchstimmung gesorgt. "Das ist wie Phönix aus der Asche aus dem Hut gezaubert", meinte Ottmar Hitzfeld damals. Auch er war ein Nachfolge-Kandidat von Völler gewesen - hatte aber schnell abgesagt. Nun war es Jürgen Klinsmann geworden, der schon länger auf den Posten geschielt und Berti Vogts ("Ohne mich wäre Jürgen heute noch mit dem Surfbrett unterwegs") extra für seine Bewerbung als Berater und Fürsprecher engagiert hatte.
Es klappte, doch sportlich lief es alles andere als rund. Schnell kritisierte die Fußball-Öffentlichkeit die Trainingsmethoden von Klinsmann ("Als das Gummiband-Training im Fernsehen kam, habe ich mich gefragt, ob wir den 1. April haben", Hermann Gerland) und zudem sorgte sein Wohnsitz für Diskussionen. Klinsmann weigerte sich standhaft nach Deutschland zu ziehen. Er blieb in Kalifornien ("Wenn er den WM-Titel holt, dann kann er sogar nach Hawaii ziehen", Stefan Effenberg) wohnen. Doch dann kam der 1. März 2006 und das Debakel von Florenz. Und nun drängte die Zeit endgültig.
"Der soll hierherkommen und nicht ständig in Kalifornien rumtanzen und uns hier den Scheiß machen lassen", schimpfte Uli Hoeneß, den man zum Vorsitzenden der wiederbelebten "Taskforce Nationalmannschaft" gemacht hatte. Doch Hoeneß erkannte in diesen Tagen auch, dass die Zeit des Maulens und Kritisierens vorbei war. Er stellte die verbalen Spitzen gegen Klinsmann und das Team augenblicklich ein und mahnte stattdessen an, dass es nur mit einem "Schulterschluss" der gesamten Nation gehe.
Schulterschluss gelingt erst nach Turnierbeginn
Reiner Calmund redete sich damals vor 17 Jahren in Bonn immer weiter und mehr in Ekstase. In manchen Momenten war es etwas schwierig seinen Gedanken zu folgen, doch der Kern seiner Botschaft - nicht nur an Fußball-Deutschland, sondern an das ganze Land - war eindeutig: "Bisschen Herz, bisschen Offenheit. Und das bringt so ein Turnier mit sich: Die große Chance, endlich wieder ein wenig Wir-Gefühl zu spüren und zu demonstrieren."
Und genau das ist es wohl, was sich Hansi Flick, Rudi Völler und die Nationalmannschaft in diesen sportlich eher dürftigeren Tagen der DFB-Elf wünschen: Endlich wieder Seit an Seit mit den Fans gehen zu dürfen. Doch wer sich an das Jahr 2006 und an das Sommermärchen zurückerinnert, der muss sich ehrlich eingestehen: Der wahre Schulterschluss zwischen Nationalmannschaft und Fans gelang erst, als das Turnier bereits angepfiffen war - und eine Zeit wie im kollektiven Traum begann.
Als Lehre für heute kann das nur bedeuten: Noch ist die EM im nächsten Jahr in weiter Ferne. Und ob die Erinnerungen an 2006 und die im Moment eingeforderte Geduld sich auszahlen, werden wir alle frühestens in zwölf Monaten wissen. Doch eins ist jetzt schon sicher: Gegen ein neues Sommermärchen wird niemand etwas haben. Und vielleicht erzählen uns auch Reiner Calmund und Uli Hoeneß bald noch einmal die Geschichte, wie sich am Ende alles zum Guten wendete.
Quelle: ntv.de