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Infektiologe zu Corona-Fragen "Die Viren werden sicher bleiben"

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Für die kommenden Monate erwarten Fachleute wieder mehr Covid-19-Fälle.

Für die kommenden Monate erwarten Fachleute wieder mehr Covid-19-Fälle.

(Foto: picture alliance / pressefoto_korb)

Mit dem Herbst kehrt das Coronavirus zurück - und mit ihm nicht nur neue Infektionswellen, sondern auch neue Varianten. Als Schutzschild sollen die neuen, auf Omikron angepassten Impfstoffe dienen. Doch wie gut schützen diese? Worauf wir uns in den nächsten Monaten einstellen müssen, wer sich impfen lassen sollte und wie die Lage in den Kliniken ist, erklärt Leif Erik Sander, Infektiologe und Impfstoffforscher an der Berliner Charité, im Gespräch mit ntv.de.

ntv.de: Professor Sander, die kalte Jahreszeit steht vor der Tür. Gleichzeitig steigen schon jetzt die Infektionszahlen. Kommt eine neue Corona-Welle auf uns zu?

Leif Erik Sander: Ich erwarte, dass wir auch in diesem Herbst und Winter wieder Infektionswellen bekommen. Sars-CoV-2 zirkuliert weiterhin weltweit und auch in der deutschen Bevölkerung. Und das Virus verändert sich stetig. Deswegen führt es auch immer wieder zu neuen Infektionen. Diese treten in der kalten Jahreszeit gehäuft auf, wie es für die meisten Atemwegsinfekte der Fall ist.

Müssen wir uns also Sorgen machen?

Prof. Dr. med. Leif Erik Sander ist Infektiologe, Internist, Impfstoffforscher und Direktor der Klinik für Infektiologie der Charité in Berlin.

Prof. Dr. med. Leif Erik Sander ist Infektiologe, Internist, Impfstoffforscher und Direktor der Klinik für Infektiologie der Charité in Berlin.

Ich glaube, dass kommende Corona-Wellen nicht so drastisch ausfallen werden. Im Unterschied zu den Vorjahren hat die Bevölkerung eine sehr gute und breite Immunität aufgebaut, dank Impfungen, Booster-Impfungen und überstandenen Infektionen. Die meisten Menschen hatten also inzwischen Kontakt mit dem Virus und sind daher nicht mehr so empfänglich für die Erkrankung wie früher. Trotzdem hängt es auch immer davon ab, welche Virusvarianten sich durchsetzen werden. Bei den derzeit erwartbaren Varianten schätze ich die Gefahr für schwere Infektionswellen eher gering ein.

Auch für ältere und immungeschwächte Menschen?

Inzwischen kann man Sars-CoV-2 zum Teil mit anderen Erregern wie der Grippe vergleichen - zumindest, wenn es darum geht, wie gefährlich eine akute Infektion für den einzelnen Menschen ist. Bei älteren und immungeschwächten Menschen ist das Risiko eines schweren Verlaufs weiterhin deutlich höher, genau wie auch bei der Grippe. Eine Corona-Infektion kann dazu führen, dass sich bestehende Vorerkrankungen akut verschlechtern oder auch wieder eine Lungenentzündung auftritt. Zwar haben wir nicht mehr, wie in den ersten Wellen, reihenweise Menschen mit schwerem Lungenversagen in den Kliniken. Dafür sehen wir alle möglichen Komplikationen, die in Einzelfällen lebensgefährlich sein können. Daher sollten sich ältere und vorerkrankte Menschen besonders jetzt ab Herbst wieder schützen.

Schutz ist ein gutes Stichwort: Ab Montag kommen die neuen, angepassten Corona-Impfstoffe in die Hausarztpraxen. Diese wurden eigentlich gegen die Omikron-Sublinie XBB.1.5 entwickelt, inzwischen dominiert aber Eris. Wirken sie trotzdem?

Das Virus versucht die ganze Zeit unserem Immunschutz zu entkommen, damit es weiterhin infizieren und sich verbreiten kann. Beruhigend ist jedoch, dass vorläufige Daten zeigen, dass die angepassten Impfstoffe auch die neuen Varianten sehr gut neutralisieren können. Nun ist das nicht gleichbedeutend mit absolutem Schutz, aber aus der Vergangenheit wissen wir, dass diese Messwerte immer sehr gut mit dem Schutz korreliert haben. Deswegen gehe ich fest davon aus, dass die neuen Impfungen den Immunschutz weiter verbessern und verbreitern werden - auch gegen Eris.

Und was ist mit Pirola? Vergangene Woche wurde die relativ stark mutierte Corona-Variante erstmals in Deutschland nachgewiesen.

Noch weiß man sehr wenig über die sogenannte Pirola-Variante BA.2.86. Sie weist im Verhältnis zu den vorherigen Varianten sehr viele Veränderungen im Spike-Protein auf - bis zu 35 Mutationen. Somit hatte man die berechtigte Sorge, dass sie eine sehr starke Immunflucht zeigt und uns wieder vor große Probleme stellen könnte. Die gute Nachricht ist aber, dass sowohl Menschen, die mit einer von den anderen Omikron-Linien infiziert waren, als auch diejenigen, die eine Booster-Impfung bekommen haben, neutralisierende Antikörper auch gegen diese Variante bilden. Das heißt, ein durch XBB aufgefrischter Immunschutz scheint auch Pirola mit abzudecken. Somit ist auch Pirola wahrscheinlich nicht so dramatisch.

Schützen die neuen Impfstoffe auch vor einer Ansteckung?

Eine frische Impfung bringt immer einen zeitlich begrenzten Schutz vor Ansteckungen, wie Studien zeigen. Vor dem Auftreten der Omikron-Variante war dieser Ansteckungsschutz sogar sehr gut - zumindest für einen gewissen Zeitraum. Mit Omikron ist er aber deutlich schwächer geworden. Dennoch sehen wir bei frisch Geimpften, vor allem mit adaptierten Impfstoffen, dass das Risiko, sich anzustecken, sinkt. Allerdings hält dieser Schutz, im Gegensatz zu dem sehr stabilen Schutz vor schweren Verläufen, nicht so lange an.

Sollten sich auch junge und gesunde Menschen boostern lassen?

Wenn der letzte Kontakt mit dem Virus lange her ist oder man kurzfristig das Risiko einer Corona-Infektion oder auch deren Folgen verringern will, ist das sicherlich eine gute Idee. Zugelassen ist die Impfung sowieso für die ganze Bevölkerung. Die Ständige Impfkommission (STIKO) hingegen ist etwas zurückhaltender und empfiehlt die Auffrischung primär für Ältere und Vorerkrankte. Dennoch können sich auch in Deutschland jüngere Menschen bedenkenlos impfen lassen. Es bleibt aber letztlich eine Frage der Dringlichkeit. Als die gesamte Bevölkerung im Prinzip noch ungeschützt war, war das Risiko schwer zu erkranken auch für jüngere deutlich größer. Wenn man jetzt jedoch bereits dreimal geimpft und womöglich einmal infiziert war, ist das Risiko einer schweren Erkrankung eben gering geworden.

Vor einem wichtigen Event oder dem Urlaub kann eine Booster-Impfung dennoch sinnvoll sein?

Eine Impfung ist in den meisten Fällen sinnvoll, aber eben nicht unbedingt erforderlich. Außerdem sind nicht nur Coronaviren im Umlauf, sondern auch viele andere Erreger, die dazu führen, dass man eine lästige Erkältung, einen grippalen Infekt oder noch Schlimmeres bekommen kann. Von daher ist nur eine Corona-Booster-Impfung keine Garantie für einen virenfreien Urlaub. Einen hundertprozentigen Schutz wird man nicht erreichen können, aber man kann das Risiko minimieren, indem man beispielsweise im Zug eine Maske aufsetzt.

Wie sieht es mit den Nebenwirkungen bei den angepassten Impfstoffen aus?

Nebenwirkungen können auch bei der vierten oder fünften Impfung auftreten. Aber neue Daten aus den USA zeigen, dass ernste Komplikationen bei den bivalenten Booster-Impfungen im vergangenen Jahr nur sehr, sehr selten auftraten. Von rund 500.000 Geimpften zwischen 12 und 39 Jahren - also in der Altersgruppe, in der Herzmuskelentzündungen gehäuft auftreten können, gab es lediglich zwei Fälle. Das heißt also, dieses Risiko scheint sich mit den Boostern eher noch weiter reduziert zu haben. Dennoch sollte man als junger Mensch mit einer ausreichenden Immunisierung das Verhältnis zwischen Nutzen und möglicher Risiken abwägen.

Kann man sich zu oft impfen?

Seit Längerem gibt es die Diskussion, ob das Immunsystem bei zu vielen Impfungen gesättigt oder in eine Richtung geprägt und damit quasi zu träge wird, um auf neue Virusvarianten zu reagieren. Bisher haben wir dafür bezüglich des Impfschutzes jedoch keine Hinweise gefunden. Wenn man die Impfung zum richtigen Zeitpunkt macht und den aktuellen Empfehlungen folgt, besteht aus meiner Sicht kein Risiko, dass man "überimpft".

Wird es ähnlich wie bei der Grippe auch für Corona jedes Jahr eine neue Booster-Impfung geben?

Das ist momentan das wahrscheinlichste Szenario. Das Coronavirus verändert sich weiterhin stark und verursacht immer noch recht große Infektionswellen, die auch das Gesundheitssystem regelmäßig herausfordern. Ich gehe davon aus, dass auch in den kommenden Jahren eine Booster-Impfung im Herbst empfohlen wird. Es kann aber auch sein, dass wir mit der Zeit nur noch kleinere Veränderungen am Virus sehen werden. In diesem Fall müssten wir vermutlich nicht mehr jedes Jahr impfen. Aktuell sieht es aber nicht so aus.

Könnte es wieder Corona-Beschränkungen wie eine Maskenpflicht geben?

Davon gehe ich nicht aus. Solche Maßnahmen sind aber ohnehin eine primär politische Entscheidung. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass viele Menschen im Winter freiwillig in bestimmten Bereichen lieber eine Maske tragen, weil sie sich nicht anstecken wollen. Infektionen zu vermeiden, ist definitiv weiterhin empfehlenswert. Aber eine dramatische Corona-Lage wie in den ersten Jahren der Pandemie ist nicht zu erwarten.

Das sind doch erfreuliche Prognosen - zumindest für die Allgemeinbevölkerung. Wie sieht denn die Lage in den Kliniken aus?

Wie schon im letzten Winter wird es dieses Jahr wieder viele Atemwegsinfektionen geben: neben Sars-CoV-2 wieder RS-Viren, nicht nur bei den Kindern, eine Grippewelle, endemische Coronaviren, Rhinoviren und eventuell auch wieder vermehrt bakterielle Erreger. Gleichzeitig ist unser ganzes Gesundheitssystem seit der Pandemie, sowohl im ambulanten Sektor als auch im stationären Bereich, ziemlich belastet. Wenn nun wieder mehr Patienten mit der nächsten Virus-Welle kommen und Personal krankheitsbedingt zusätzlich ausfällt, können Notaufnahmen, Kliniken und Praxen schnell wieder an ihre Grenzen kommen. Deswegen brauchen wir dringend die geplanten Reformen im Gesundheitswesen, damit wir wieder ein bisschen robuster und resilienter werden, um mit diesen Belastungen besser umzugehen. Denn die Viren werden sicher bleiben.

Mit Leif Erik Sander sprach Hedviga Nyarsik.

Quelle: ntv.de

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