Gletschersturz vor zwei Jahren Wie gefährlich ist es in den Alpen geworden?
03.07.2024, 10:39 Uhr Artikel anhören
Wanderer am Pandonkamm mit dem Blick zur Marmolada.
(Foto: IMAGO/Zoonar)
Vor zwei Jahren, am 3. Juli, ereignete sich kurz vor 14 Uhr entlang einer beliebten Route an der Marmolada in den Dolomiten ein Gletschersturz, der 11 Bergsteiger in den Tod riss. Es hieß, der Klimawandel habe maßgeblich zu dem Unglück beigetragen. ntv.de fragt den Südtiroler und international renommierten Glaziologen und Klimaforscher Georg Kaser, wie es jetzt und in Zukunft mit Gletscherwanderungen aussieht und was sich weiter in den Bergen geändert hat.
ntv.de: Kann man in den Alpen weiter Gletscherwanderungen unternehmen?
Georg Kaser: Derzeit ja, in wenigen Jahrzehnten werden die Gletscher in den Ostalpen, aber auch die meisten in den Westalpen allerdings weitgehend verschwunden sein. Das Steigen auf Eis wird dann nur noch in wenigen, hoch gelegenen und schattigen Rinnen möglich sein. In hohen schattigen Mulden wird das Eis von Schutt bedeckt und der Rest der Gletscher abgeschmolzen sein.
Was muss man heute bei einer Wanderung in Gletschergebieten beachten, was noch vor 30 Jahren keine Rolle spielte?
Wenn Bergsteiger einmal auf dem Eis sind, ist das Gehen darauf heute nicht wirklich anders als vor 30 Jahren. Das schwierigste und auch gefährlichste ist immer der Übergang vom aperen, also schneebefreitem, auf die Gletscherzunge und dann vom Eis auf das felsige Gelände in Gipfelnähe. Das war es auch schon vor 30 Jahren, aber jetzt ändern sich die Gletscherränder unten und oben durch den Rückzug des Eises derart schnell und stark, dass diese Übergänge oft sehr kompliziert werden und das Anlegen von neuen Steigen und Zustiegen gar nicht mehr gelingt. In den Gipfelflanken der Berge wird durch das Verschwinden des Eises lockeres Felsmaterial freigelegt und es steigt die Steinschlaggefahr. Natürlich sind auch die Zustiege von der Hütte, der Seilbahn oder vom Tal zu den Gletschern länger und mühseliger geworden.
Sind die Felsen heute bröckliger?
Nein, nicht unbedingt. Viele Felsflanken und -rinnen waren vor 10-20 Jahren noch eisbedeckt und daher relativ einfach zu besteigen oder zu überqueren. Unter dem wegschmelzenden Eis kommt oft nicht nur fester Fels zum Vorschein, sondern auch über Jahrhunderte gelockertes Material. Dadurch nehmen auf manchen Routen Steinschlaggefahr, aber auch Felsstürze und Hangrutschungen zu. Es wird an diesen Stellen schon ein paar Jahrzehnte dauern, bis sich das Gelände stabilisiert hat. Bei an und für sich brüchigen Felsformationen wird das eisfrei gewordene Gelände instabil bleiben.
Man muss heute mehr als früher sehen, wo man hintritt?
Im Bereich der Gletscherränder ja. Einmal auf dem Eis hängt die Schwierigkeit des Gehens von der witterungsabhängigen Eisbeschaffenheit ab. Feuchtwarmes Wetter kann eine Gletscheroberfläche sehr glatt machen, Schnee kann Spalten verdecken.
Auch sogenannte Gletscherseen können gefährlich sein. Warum?
"Gletscherseen" sind oft auch nur kurzlebige Wasseransammlungen im Gletschervorfeld, an den Gletscherrändern oder auf einem Gletscher. Gletschervorfeldseen entstehen beim Rückzug eines Gletschers entweder hinter einer Moräne oder in einer ausapernden, schmelzenden Mulde im vormaligen Gletscherbett. Sie können langlebig sein, aber auch plötzlich ausbrechen, wenn die dämmende Moräne dem Wasserdruck nicht mehr standhält. Das ist ein relativ häufiges und bedrohliches Phänomen im Himalaja und in den Anden. Die Folge sind sogenannte GLOFs (glacier lake outburst floods) mit oft katastrophalen Auswirkungen weit talab. In den Alpen gab es solche Ereignisse gehäuft während der kleinen Eiszeit. Seen an Gletscherrändern und auf Gletschern stauen sich meist im Laufe des Frühlings und brechen dann fast immer im Laufe des Sommers aus.
Können auch in unseren Breitengraden Gletscherseen ausbrechen?
Ja, freilich. Dafür bekannt ist der alljährliche auftretende See auf dem Schweizer Gornergletscher oberhalb von Zermatt im Monte Rosa Massiv. Der See entsteht am Zusammenfluss von Gorner- und Grenzgletscher, wo sich Schmelzwasser staut, bis es dann meist plötzlich einen Weg durch das Eis und ins Tal findet.
War es ein Gletschersee, der das Unglück auf der Marmolada verursachte?
Nein, da war kein See im Spiel. Wohl aber hat sich sehr wahrscheinlich am Gletscherbett lokal Schmelzwasser gestaut, was zu dem beschleunigten Eisabsturz geführt hat. Aber es waren vor allem die außergewöhnlich langanhaltenden und hohen Lufttemperaturen, die das Eis an dieser Flanke destabilisiert hatten. Eine Folge des menschengemachten Klimawandels. Ein italienischer Kollege hat die Situation sehr schön und treffend beschrieben. Er hat sie mit dem "ghiacciolo" - dem bunten und hierzulande sehr beliebten Wassereis - verglichen. Wenn man es aus der Kühltruhe nimmt, ist es fest, hart und spröde. Man kann anfänglich kaum hineinbeißen. An einem warmen Sommertag muss man es aber dennoch schnell essen, sonst bricht es plötzlich in weichen Brocken vom Stil. So ähnlich hat es sich vor zwei Jahren an der Marmolada ereignet.
Kann sich ein solches Unglück wiederholen?
Eisabbrüche wie jener auf der Marmolada sind bei dem starken Gletscherrückgang im fortschreitenden Klimawandel nicht ganz außergewöhnlich. Ähnliche Eisabbrüche wird es auch in naher Zukunft geben, wenngleich mit dem Verschwinden der Gletscher immer seltener und am Ende gar nicht mehr. Die meisten Ereignisse fanden und finden weitab von viel begangenen Routen statt. Der Eisabbruch auf der Marmolada hat jedoch eine beliebte Bergsteigerroute gerade in dem Moment erwischt, in dem sich so viele Menschen auf ihr befanden. Ich würde also nicht sagen, dass sich so etwas nie mehr wiederholen kann, aber die Wahrscheinlichkeit, dass es wieder eine viel begangene Route treffen wird, ist gering.
Mit Georg Kaser sprach Andrea Affaticati.
Quelle: ntv.de