Zwei Millionen Spezies gefährdet Mit den Arten stirbt auch die Menschheit
19.09.2024, 18:45 Uhr Artikel anhören
In einem Ökosystem haben alle Lebewesen ihre Funktion und sind aufeinander angewiesen: Stirbt eine Art aus, kann das Folgen für andere Arten haben.
(Foto: picture alliance / Reinhard Kungel)
In einem Ökosystem hat jede Pflanze, jedes Tier und jeder Pilz eine wichtige Funktion. Verschwindet eine Spezies, kann das weitreichende Folgen haben - auch für den Menschen. Eine Untersuchung ist daher besonders alarmierend: Es sind deutlich mehr Arten vom Aussterben bedroht als bislang angenommen.
Der Mensch ist auf die Natur angewiesen: "Ob die Luft zum Atmen, sauberes Trinkwasser, Nahrung oder Kleidung, Brennmaterialien, Baustoffe oder Arzneien - auf der großen Vielfalt der Ressourcen, die uns die Natur zur Verfügung stellt, basiert unser Leben, unsere Gesundheit, unsere Ernährung, unser Wohlbefinden", schreibt das Leibniz-Forschungsnetzwerk Biodiversität in einem Bericht. Doch die Biodiversität der Erde ist bedroht. Weltweit stehen zwei Millionen Pflanzen- und Tierarten vor dem Aussterben - in Europa sogar jede fünfte Spezies, wie eine Studie zeigt.

(Foto: RTL)
Wie steht es um den Lebensraum unserer Meerestiere? Wie schützen wir Nashörner vor Wilderern? Was bringen Vogelhäuschen im eigenen Garten? Vom 16. bis 20. September 2024 stehen in der diesjährigen Nachhaltigkeitswoche, die RTL zusammen mit ntv, Vox, dem Stern, GEO, Brigitte & RTL+ veranstaltet, die Themenbereiche (Unter-)Wasserwelt & Artenvielfalt crossmedial im Mittelpunkt.
Das Forschungsteam um Axel Hochkirch vom Nationalmuseum für Naturgeschichte Luxemburg und der Uni Trier analysierte alle bekannten Wirbeltierarten Europas, darunter Amphibien, Vögel, Fische, Reptilien und Säugetiere, sowie wichtige wirbellose Tiergruppen wie Schmetterlinge und Bienen und verschiedene Pflanzenarten. 2839 der 14.669 von dem Team untersuchten Arten, insgesamt rund 19 Prozent, sind in Europa demnach vom Aussterben bedroht. 125 Tier- und Pflanzenarten gelten bereits jetzt als ausgestorben, regional ausgestorben oder möglicherweise ausgestorben.
Die in Europa heimischen Pflanzen sind laut der Studie, die im November 2023 im Fachmagazin "Plos One" veröffentlicht wurde, besonders gefährdet: Rund 27 Prozent sind vom Aussterben bedroht. Doch auch bei den Tierarten sind die Zahlen hoch - 24 Prozent der Wirbellosen und 18 Prozent der Wirbeltiere sind betroffen. Dieses Muster sei bemerkenswert, so das Forscherteam, wenn man bedenke, dass den Wirbeltieren wesentlich mehr Aufmerksamkeit gewidmet werde. "Eine der wichtigsten Erkenntnisse ist, dass sich die Anzahl gefährdeter Arten über die verschiedenen Artengruppen nicht maßgeblich unterscheidet", sagt Hochkirch.
Mit neuen Datensätzen errechnete das Team auch die Anzahl der weltweit vom Aussterben bedrohten Tier-, Pflanzen- und Pilzarten: Mit zwei Millionen ist die Zahl doppelt so hoch wie in der jüngsten globalen Bestandsaufnahme des Weltbiodiversitätsrates (IPBES) aus dem Jahr 2019. Damals kam IPBES zu dem Ergebnis, dass eine Million der geschätzt acht Millionen Arten bedroht sind.
Einmal verloren - für immer verloren
In den hochkomplexen Systemen der Natur existiert keine Art nur für sich allein. Jede Spezies interagiert in ihrem Ökosystem mit anderen Arten – jeder Baum, jeder Pilz, jedes Insekt erfüllt eine Funktion. Die Stabilität von Ökosystemen, so der wissenschaftliche Konsens, ist von derer Vielfalt abhängig. Fachleute sind daher überzeugt: Jede Spezies, die verschwindet, erhöht das Risiko für den Kollaps bedeutender Ökosysteme und bedroht damit auch den Fortbestand der Menschheit.
"Das Artensterben bestimmt in letzter Konsequenz darüber, ob wir als Menschheit auf der Erde überleben", sagte die Biologin Katrin Böhning-Gaese dem "Spiegel". Dieser Überzeugung ist auch Carl Beierkuhnlein, Leiter des Lehrstuhls Biogeografie an der Universität Bayreuth. Die Biodiversität sei entscheidend für den Schutz vor Hochwassern, für sauberes Grundwasser, Hangstabilität, Bestäubung von Nutzpflanzen und viele weitere existenziell relevante Ökosystemdienstleistungen. "Keine noch so hoch entwickelte Gesellschaft kann die finanziellen Mittel aufbringen, diese Leistungen der Natur für unsere Lebensgrundlagen durch technologische Lösungen zu ersetzen", so Beierkuhnlein.
Mehr als zwei Drittel aller Feldfrüchte weltweit, darunter viele Obst- und Gemüsesorten, Kaffee und Kakao sind von natürlichen Bestäubern wie Insekten abhängig. Fehlen diese, dürfte sich das Nahrungsangebot für die Menschen deutlich verknappen. Doch schon heute ist ein Drittel aller Insektenarten weltweit vom Aussterben bedroht. Auch für die Medizin wäre ein noch stärkerer Verlust der biologischen Vielfalt eine Katastrophe, denn viele Medikamente kommen aus der Natur - rund 70 Prozent sind es allein bei der Krebsbehandlung.
"In der biologischen Vielfalt ist das Wissen von 3,5 Milliarden Jahren natürlicher Evolution gespeichert", sagt Klement Tockner, Professor für Ökosystemwissenschaften und Generaldirektor der Senckenberg Gesellschaft, der Deutschen Welle. "Der voranschreitende Verlust unseres Naturkapitals stellt die größte Gefahr für die gesamte Menschheit dar - denn: einmal verloren, ist für immer verloren."
"Was uns fehlt, sind Taten"
Die Ursachen für das Artensterben sind vielfältig, als größte Bedrohung sieht die aktuelle Studie die intensive wirtschaftliche Nutzung von Landflächen und Meeren, die zum Verlust von Lebensräumen führt. "Zwar wurde die Feststellung, dass landwirtschaftliche Landnutzungsänderungen eine große Bedrohung darstellen, schon oft gemacht, aber unsere Analyse ist die bisher umfassendste und eindeutigste, die das Ausmaß dieser Bedrohung im kontinentalen Maßstab bestätigt", schreiben die Autoren. Auch die Übernutzung biologischer Ressourcen sowie durch den Klimawandel verursachte Extremwetterlagen gefährden die Artenvielfalt demnach massiv.
Doch die Forscherinnen und Forscher sehen auch Grund zur Hoffnung: Neuansiedlungen von Tierarten und ein besonderer Schutz könnten helfen, die Artenvielfalt zu erhalten. "Wichtig ist es, Maßnahmen zum Schutz gefährdeter Arten einzuleiten. Diese zeigten bei Wirbeltieren ja schon viel Erfolg, was die Ausbreitung früher gefährdeter Arten, wie Schwarzstorch, Seeadler, Wanderfalke, Uhu und Fischotter beweist", sagt Hochkirch. "Es ist wichtig, die notwendigen Erhaltungsmaßnahmen rechtzeitig umzusetzen. Wir verfügen bereits über genügend Beweise, um zu handeln - was uns fehlt, sind Taten."
Dieser Beitrag wurde bereits am 8. November 2023 bei ntv.de veröffentlicht. Er wurde für die Nachhaltigkeitswoche überarbeitet.
Quelle: ntv.de, mit dpa