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Komplexe Überlebensstrategien Wie Neuronen dem zellulären Selbstmord trotzen

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Die Computerdarstellung zeigt menschliche Nervenzellen.

(Foto: imago images/Science Photo Library)

Eigentlich kann sich fast jede Zelle im Körper eines Menschen erneuern. Die Nervenzellen im Gehirn machen da allerdings eine Ausnahme. Forschende können nun erklären, wie sie dennoch nahezu 100 Jahre alt werden können.

Hirnzellen haben ein ausgeklügeltes und komplexes System von Anpassungen entwickelt, um Stress und Zelltod zu entgehen. Das haben Forschende um Ruven Wilkens vom Hector Institut für Translationale Hirnforschung am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim herausgefunden.

In alternden Zellen kommt es vor, dass sich fehlerhafte Proteine und Schäden an der DNA bilden. Nehmen diese Schäden überhand, weil zelluläre Reparaturprogramme nichts oder zu wenig ausrichten können, dann führt das zur Aktivierung eines zellulären Selbstmordprogramms, das auch als Apoptose bezeichnet wird. Dieses soll vor allem vor der Entartung anderer Zellen, also der Bildung von Tumoren, schützen. Dieser programmierte Zelltod wird durch mehrere molekulare Signalwege streng kontrolliert. Bei Neuronen ist das anders, denn die überwiegende Mehrheit der Nervenzellen wird bereits vor der Geburt angelegt - und muss dementsprechend möglichst ein Leben lang halten.

"Wenn Zellen gestresst oder geschädigt werden, versuchen sie normalerweise, sich an diese Bedingungen anzupassen, indem sie beispielsweise reaktive Reparaturprogramme aktivieren", erklärt Prof. Philipp Koch, Leiter des Hector Institut für Translationale Hirnforschung in einer Mitteilung. Es scheint also so zu sein, dass es dieses "Selbstmordprogramm" bei den Neuronen im Gehirn nicht oder nur in sehr abgeschwächter Form gibt. Um herauszufinden, wie die Hirnzellen es dennoch schaffen, mit Stress und DNA-Schäden umzugehen und schließlich älter zu werden als jede andere Zelle im Körper, hat das Forschungsteam die Zellen in verschiedenen Stadien im Labor untersucht.

Junge und reife Nervenzellen

Dafür verwendeten die Forschenden menschliche Stammzellen und wandelten diese in menschliche Nervenzellen um. Diese ließen sie reifen und verglichen sie später mit jungen Nervenzellen. Zudem analysierten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Genaktivität der älteren und jungen Hirnzellen und unterzogen die Zellen verschiedenen Stresstests, wie dem Entzug von Sauerstoff und dem Aussetzen verschiedener Gifte. Das Forschungsteam wollte auch ermitteln, wie die verschiedenen alten Zellen mit DNA-Schäden umgehen.

Die Forschenden sahen eine fast vollständig heruntergeregelte Apoptose bei den reifen Hirnzellen. Wichtige Gene für den Signalweg der Apoptose sind zwar noch vorhanden, werden bei den reifen Nervenzellen jedoch nicht aktiviert. Das wiederum führt dazu, dass wichtige Proteine, die den zellulären Selbstmord einleiten, gar nicht mehr produziert werden. Die Apoptose-Botenstoffe, die in der Fachwelt auch als Caspasen bezeichnet werden, wurden in den unreifen Nervenzellen zwar produziert, spielten jedoch in den reifen Neuronen kaum noch eine Rolle. "Wir haben festgestellt, dass die Schwelle für den Eintritt in den Zelltod bei menschlichen Nervenzellen besonders hoch ist", erklärt Koch weiter.

Erklärung für Verlauf von neurodegenerativen Erkrankungen

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Die Forscherinnen und Forscher sahen, dass menschliche Nervenzellen, sobald sie ausgereift sind, mit komplexen und zahlreichen Präventivstrategien ausgestattet sind, um sich vor Stress und Zelltod zu schützen. So werden sämtliche Mechanismen, die zum zellulären Selbstmord führen, heruntergeregelt, während die Bildung von Proteinen, die anti-apoptopisch wirken, hochgefahren werden.

"Es scheint, dass das Gehirn ein sehr ausgeklügeltes, komplexes und komplementäres Netzwerk zum Schutz vor Zelltod entwickelt hat, wahrscheinlich eine evolutionäre Anpassung an seine reduzierte Regenerationsfähigkeit. Diese Schutzmechanismen in reifen Nervenzellen können auch teilweise erklären, warum die meisten neurodegenerativen Erkrankungen meist über viele Jahrzehnte hinweg abwehrbar sind und erst im fortgeschrittenen Alter auftreten. Die Manifestation neurodegenerativer Erkrankungen könnte das Ergebnis von jahrelang angesammeltem Zellstress und -schädigung in Kombination mit einer Schwächung der Schutzmechanismen sein", sagt Koch abschließend. Die Studienergebnisse wurden im Fachjournal "Cell Death & Disease" veröffentlicht.

Quelle: ntv.de, jaz

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