Stimmen gegen Rechtsruck Aufholjagd der Linken wird zum Höhenflug - auch dank Merz


Reichinnek und van Aken freuen sich über das Wahlergebnis.
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Die Linken feiern mit knapp 9 Prozent der Stimmen den Überraschungserfolg des Abends. Das haben sie nicht nur dem Social-Media-Star Reichinnek und den Silberlocken zu verdanken. Auch CDU-Chef Merz wird unfreiwillig zum Wahlhelfer.
Damit hätte noch vor wenigen Wochen niemand gerechnet: Die Linken holen laut Hochrechnungen satte 8,9 Prozent der Stimmen bei der Bundestagswahl. Damit schaffen sie nicht nur locker den Einzug in den Bundestag, sondern können ihr Ergebnis gegenüber der vorigen Wahl deutlich verbessern. Dabei dümpelten die Umfragewerte Anfang des Jahres noch bei 3 Prozent. Keine andere Partei hat innerhalb weniger Wochen so stark zugelegt wie die Linken. Ihre Aufholjagd ist zum Höhenflug geworden. Freudestrahlend tritt Co-Spitzenkandidat Jan van Aken bei der Wahlparty hinters Rednerpult, hinter ihm die ebenso glückliche zweite Spitzenkandidatin Heidi Reichinnek, mit Tränen in den Augen.
"Wir sind als Underdog gestartet und stehen nun stärker da als vorher", sagt Van Aken seinen Parteifreunden. Die Strategie der Partei, "an der Seite der Menschen für die Themen zu kämpfen, die sie wirklich bewegen", sei aufgegangen. Die nächste Bundesregierung werde auf eine starke linke Opposition treffen, auf eine Bundestagsfraktion mit Fokus auf soziale Gerechtigkeit, bezahlbare Mieten und Preise. "Wir werden die Regierung nicht in Ruhe lassen", kündigt der Linken-Chef an. "Wir werden sie unter Druck setzen, bis sie endlich eine sozialere Politik macht." Damit verortet Van Aken seine Partei auf den Oppositionsbänken. Dabei hatte er noch am Samstag über die Möglichkeiten einer Regierungsbildung sinniert.
Um zu regieren, könnte die CDU/CSU auf zwei Koalitionspartner angewiesen sein, nachdem die SPD dramatisch abgestürzt ist. Der Einzug der Linken mit mehr als 8 Prozent in den neuen Bundestag macht ein Zweierbündnis mit klarer Mehrheit unwahrscheinlich. Den Hochrechnungen zufolge bleibt auch die Union unter ihrem Wahlziel von deutlich mehr als 30 Prozent. Unklar ist noch, ob FDP und BSW in den Bundestag einziehen. Dann hätte eine mögliche Bundesregierung aus Union und SPD keine Mehrheit - Merz wäre auf zwei weitere Parteien angewiesen. Das gute Ergebnis der Linken erschwert Merz also die Koalitionsbildung.
Wulff kritisiert "Polarisierung" im Unionswahlkampf
Der frühere CDU-Bundespräsident Christian Wulff kritisierte den Wahlkampf seiner Partei, der aus seiner Sicht ein Geschenk an AfD und Rechtsextreme war. "Die Polarisierung, die insbesondere die CDU/CSU am Ende des Wahlkampfs gemacht hat, die war offenkundig falsch, denn die Ränder sind stärker geworden", sagte der frühere CDU-Spitzenpolitiker im NDR. "AfD und die Linkspartei, die werden wahrscheinlich Friedrich Merz einen Blumenstrauß schicken."
Merz' AfD-Manöver war eine Steilvorlage für die Linken, um sogenanntes negative campaigning zu betreiben, also Wahlkampf durch Attacken auf die politischen Gegner. Reichinneck stand dabei an vorderster Front. Nachdem Merz erst einen Antrag zu einem Migrationsgesetz mit Stimmen der AfD durch den Bundestag gebracht hatte und dann damit gescheitert war, ein weiteres Gesetz mithilfe von AfD-Abgeordneten zu verabschieden, kritisierte Reichinnek ihn scharf. Sie verlangte gar seinen Rücktritt als CDU-Spitzenkandidat.
Reichinneks emotionale Rede im Bundestag zum Bruch der Brandmauer ging in den sozialen Netzwerken viral. Laut Recherchen des Medienmagazins "Meedia" verdoppelte Reichinnek die Zahl ihrer Instagram-Follower nach der Rede von 130.000 auf 288.000. Inzwischen folgen ihr dort mehr als 460.000 Nutzer. Die Linke verzeichnete nicht nur einen enormen Zulauf bei Jungwählern, sondern auch eine beispiellose Eintrittswelle.
Linke stach Wagenknecht aus
Nach dem Erfolg ihrer Partei bei der Wahl spricht Reichinnek wie Van Aken zunächst von der sozialen Opposition ihrer Partei im neuen Deutschen Bundestag. "Wir werden für genau die Themen kämpfen, mit denen wir jetzt auch in den Wahlkampf gegangen sind, für einen Mietendeckel, für ein Bauprogramm für sozialen Wohnraum, für eine Streichung der Mehrwertsteuer auf Lebensmittel, für Umverteilung im Steuersystem", sagte Reichinnek dem Sender Phoenix. Zugleich streckte sie aber auch die Hand nach Friedrich Merz aus, dessen Rücktritt sie noch vor Kurzem forderte. Grundsätzlich sei man bereit, mit allen demokratischen Parteien im Bundestag zu kooperieren, um politische Stabilität in Deutschland sicherzustellen, so Reichinnek. Allerdings habe die Union ihres Wissens nach einen Unvereinbarkeitsbeschluss mit ihrer Partei.
Der Wahlkampf gegen Merz und Reichinneks Beliebtheit bei jungen Wählern waren nicht die einzigen Erfolgsfaktoren der Linken im Wahlkampf. Drei ältere Herren, die sich die Silberlocken nennen, warben beim betagteren Publikum um Zustimmung: Gregor Gysi selbst, 76 Jahre, Bodo Ramelow, 68 Jahre, und Dietmar Bartsch, 66 Jahre. Die drei Silberlocken sammelten Sympathiepunkte, weil sie jenseits der Pensionsgrenze versuchten, ihre Partei durch Direktmandate noch in den Bundestag zu retten. Auch sie kamen auf sozialen Netzwerken gut an; bewiesen ein Gespür für die Plattformen durch Selbstironie und klare Inhalte.
Nicht zuletzt sind es auch diese klaren Inhalte, die den Linken im Wahlkampf Überzeugungskraft verliehen. Indem sie sich in ihrem Programm auf Friedenspolitik, einen starken Sozialstaat und den Osten konzentrierte, besann sich die Partei nicht nur auf ihre Wurzeln. Die Linke stach mit Sahra Wagenknecht auch eine Nebenbuhlerin aus, die noch im vergangenen Jahr gemeinsam mit anderen Mitgliedern aus der Partei austrat und das BSW gründete.
BSW stimmte für Merz' Migrationsgesetz
Wagenknecht bleibt mit ihrer Partei weit hinter dem Erfolg der Linken zurück. Sie muss um den Einzug in den Bundestag noch zittern. Programmatisch machte die Linke dem BSW Konkurrenz. Zum einen fokussierten sich beide Parteien auf soziale Forderungen. Zum anderen lehnen sowohl das BSW als auch die Linken die Waffenlieferungen an die Ukraine ab und pochen auf Friedensverhandlungen - wenn auch mit unterschiedlicher Rhetorik in Bezug auf den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands. Auffällig ist der Unterschied der beiden Wahlprogramme vor allem in einem Punkt: der Migrationspolitik. Während die Linke das individuelle Recht auf Asyl verteidigt und eine solidarische Einwanderungsgesellschaft fordert, pocht Wagenknecht auf eine Eindämmung von Migration und die Verschärfung entsprechender Gesetze.
Deshalb stimmte Wagenknechts Partei vor einigen Wochen gemeinsam mit FDP, CDU/CSU und AfD für Merz' "Zustrombegrenzungsgesetz" - das schließlich trotzdem aufgrund von Abweichlern bei den Konservativen und Liberalen scheiterte. Wagenknecht verteidigte Merz' Vorgehen bei der Abstimmung mit der AfD. "Wer zustimmt, stimmt zu. Ich finde das völlig albern, sich darüber zu empören", sagte Wagenknecht bei RTL. Offenbar solle nun das große Wahlkampfthema sein, darüber zu sprechen, ob man mit der AfD abstimmen dürfe oder nicht. "Diejenigen, die das machen, machen die AfD stark." Die Brandmauer habe nur dazu geführt, dass sie inzwischen in Umfragen bei über 20 Prozent stehe.
Mit Blick auf die Wahlergebnisse kann Wagenknecht jetzt entgegnet werden: Wer - wie sie selbst oder Merz - Löcher in die Brandmauer reißt, seien sie auch noch so klein, macht die Linken stark.
Quelle: ntv.de