Asylverfahren in Drittstaaten Könnte Deutschland illegal Eingereiste in Afrika unterbringen?


Unerlaubt eingereiste Migranten sitzen vor Beamten der Bundespolizei, nachdem sie nahe Forst (Lausitz) aufgegriffen wurden.
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Die Ministerpräsidenten der Union handeln beim Migrationsgipfel eine Zusage vom Kanzler heraus: Der Bund will prüfen, ob über den Anspruch auf Schutz künftig auch außerhalb der EU entschieden werden kann. Manche setzen große Hoffnungen auf so eine Lösung, die Aussichten auf Erfolg sind aber bestenfalls vage.
Als die von CDU und CSU regierten Bundesländer am Montag die sozialdemokratischen Ministerpräsidenten mit ihrer Forderung übertölpelten, reagierten die SPD-Länderchefs zunächst abwehrend. Ihr Parteigenosse und Bundeskanzler, Olaf Scholz aber lenkte während der anschließenden gemeinsamen Sitzung ein - den eigenen Zweifeln zum Trotz: "Die Bundesregierung wird prüfen, ob die Feststellung des Schutzstatus von Geflüchteten unter Achtung der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention zukünftig auch in Transit- oder Drittstaaten erfolgen kann", heißt es im Abschlusspapier der Ministerpräsidentenkonferenz.
Eigentlich ein Punktsieg der Union, doch deren Skepsis ist groß, tatsächlich etwas erreicht zu haben. Aus so einem Prüfauftrag kann bekanntlich alles und nichts werden. Zumal sehr unterschiedliche Deutungen kursieren, was ein Asylverfahren außerhalb der Europäischen Union bedeuten könnte. Drei Möglichkeiten sind denkbar: Erstens könnten Menschen noch auf der Reise in die EU ein Asylverfahren durchlaufen - beispielsweise in einem Transitland wie der Türkei, Tunesien oder Albanien. Zweitens wäre auch denkbar, dass Länder in direkter Nachbarschaft einer Krisenregion als Drittstaaten gemeint sind. Dort könnten Menschen mit Fluchtziel EU die Möglichkeit erhalten, einen Antrag zu stellen. Drittens kursiert das sogenannte Ruanda-Modell: Unerlaubt nach Deutschland eingereiste Menschen würden demnach in einen Partnerstaat außerhalb der EU verbracht werden, um dort ihr Asylverfahren zu durchlaufen.
Union misstraut neuer Offenheit der Ampel
Fürsprecher solcher Asylverfahren außerhalb der EU wie NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst argumentieren mit dem Schutz der Geflüchteten: Diese müssten sich nicht mehr auf gefährliche Routen wie mit Schmugglerbooten über das Mittelmeer wagen, so der Christdemokrat. Zudem bekämen verstärkt auch Frauen und Kinder sowie Menschen, die keine Schmuggler bezahlen können, legale Fluchtmöglichkeiten. Ferner argumentieren Befürworter mit einer Entlastung der Staaten an den EU-Außengrenzen, insbesondere Griechenlands und Italiens.
"Ich hoffe sehr, dass wir uns keine Denkverbote auferlegen, was solche Dinge angeht", sagte Wüst am Tag nach der Ministerpräsidentenkonferenz mit dem Kanzler. Tatsächlich wächst auch in der Ampelkoalition die Zahl der Befürworter. Mehrere SPD-Bundestagsabgeordnete hatten sich bereits vor dem Bund-Länder-Treffen für Asylverfahren in Drittstaaten ausgesprochen. Die SPD-Fraktion beriet sich am Dienstag mit zwei Migrationsforschern, die ebenfalls externe Asylverfahren sinnvoll finden. Die Parteivorsitzenden Saskia Esken und Lars Klingbeil melden Bedenken an, wollen aber keine Möglichkeit vorab ausschließen.
"Man muss die verschiedenen Optionen vorurteilsfrei überprüfen lassen", fordert auch FDP-Innenpolitikerin Ann-Veruschka Jurisch und erinnert im Gespräch mit ntv.de daran, dass ein Drittstaatenmodell zu prüfen schon im Koalitionsvertrag vereinbart war. "Ich finde es gut, dass jetzt endlich alle vorankommen wollen. Das war bei den Grünen lange Zeit nicht so", sagt Jurisch. Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident Winfried Kretschmann hatte vor dem Bund-Länder-Treffen den kurzfristig eingebrachten Forderungskatalog der Unionsländer mitgetragen, der die Prüfung der Drittstaatenoption auf die Tagesordnung brachte.
Konflikt mit Europarecht
Teile der eigenen Partei widersprachen Kretschmann umgehend. Erik Marquardt, Europaabgeordneter und Mitglied des Parteirats der Grünen, sieht derlei Gedankenspiele an rechtlichen Hürden scheitern. "Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat auf Grundlage der Europäischen Menschenrechtskonvention geurteilt, dass Geflüchtete, die in der EU oder im Mittelmeer von einem EU-Boot aufgegriffen werden, nicht ohne Weiteres in einen Drittstaat gebracht werden dürfen", sagt Marquardt. Es müsse mindestens geprüft werden, ob den Menschen in diesem Land Folter oder Misshandlung drohe.
Nach EU-Recht dürften Menschen auch nicht in ein Transitland verbracht werden, zu dem sie keine persönliche Beziehung - also etwa Verwandte oder eine längere Aufenthaltsdauer in der Vergangenheit - haben, sagt Marquardt. Zwar ließe sich die entsprechende Verordnung hypothetisch auch verändern, das würde aber eine weitere Reform der gemeinsamen Asylpolitik nach sich ziehen - während die EU-Länder noch immer inmitten der aktuellen Reformbemühungen stecken.
Hinzu komme ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zu den sogenannten Transitzonen, die Ungarn zeitweilig betrieben hatte: "Man darf die Menschen nicht einfach einsperren, nur weil sie Asyl beantragen", fasst Marquardt das Verdikt des EuGH zusammen. Genau das wäre aber wohl nötig, würde man Menschen mit Fluchtziel Deutschland außerhalb der EU in ein Asylverfahren zwängen wollen.
Kauft sich Europa aus Verantwortung raus?
Auch die Genfer Flüchtlingskonvention baut Hürden auf: Zwar lasse sich kein direktes Verbot von Drittstaatenkonzepten ableiten, sagt die rechtspolitische Sprecherin der Organisation Pro Asyl, Wiebke Judith. "Die Flüchtlingskonvention setzt aber einen Schutzstandard für geflüchtete Menschen fest, der von anderen Ländern so oft eben nicht eingehalten wird - wie auch andere Menschenrechte. Das sehen wir beispielsweise in der Türkei: Ankara bekommt viel Geld von der EU, damit syrische Geflüchtete dort bleiben, obwohl ihnen grundlegende Rechte in der Türkei verwehrt bleiben."
Pro Asyl warnt zudem davor, den Grundgedanken der Flüchtlingskonvention zu unterlaufen, die alle Staaten in Verantwortung nimmt. "Die wohlhabenden Länder des Nordens nehmen jetzt schon nur einen kleinen Teil der Menschen auf, die weltweit auf der Flucht sind, und könnten sich nun weiter aus dieser gemeinsamen Verantwortung herauskaufen. Das untergräbt den Leitgedanken der Flüchtlingskonvention und steht im Widerspruch zu den Zielen und Prinzipien, auf denen die Europäische Union aufbaut. Die primäre völkerrechtliche Verantwortung für den Asylantrag liegt bei dem Land, in dem der Antrag gestellt wird", sagt Judith.
Zudem verweisen Winter und Grünen-Politiker Marquardt auf einen Rechtsstreit in Großbritannien: Die britische Regierung will Asylsuchende nach Ruanda ausfliegen und hat dem Land schon zur Vertragsunterzeichnung im April vorab 160 Millionen Pfund geschickt - aber noch keinen einzigen Flüchtling. Das höchste Gericht des Landes hat Zweifel, ob die Menschen in Ruanda vor unmenschlicher Behandlung sicher wären - dabei gilt es die Europäische Menschenrechtskonvention zu beachten. Ein endgültiges Urteil wird erst in mehreren Monaten fallen. In der EU wird dieser Prozess aufmerksam verfolgt. "Die Situation in Ruanda ist nicht so, dass wir dort Menschen hinschicken könnten. Aus unserer Sicht ist es daher rechtlich höchst fragwürdig und vor allem unrealistisch, dass es in der Praxis dann wirklich menschenrechtskonform ablaufen kann", sagt Judith von Pro Asyl.
Wer soll aufnehmen?
Die Bundesregierung müsste ein Partnerland finden, das Deutschland gegen Bezahlung Flüchtlinge abnähme. Oder auch mehrere Länder. Diese müssten diese Menschen auch dann dauerhaft im Land halten, sollten sie weder einen Schutzstatus in Deutschland zugesprochen bekommen noch in ihr Herkunftsland abgeschoben werden können. Das sind keine attraktiven Aussichten - wer dazu bereit sein sollte, ist unklar. Die Bundesregierung tut sich jetzt schon schwer, überhaupt Rückführungsabkommen mit Herkunftsländern in nennenswerter Zahl abzuschließen - allen gebotenen Anreizen wie Geld und Fachkräfte-Aufnahmeprogramme zum Trotz.
Wie schnell man zudem mit hochproblematischen Ländern kooperiert, zeige das Beispiel Libyen, das gegen EU-Geld Flüchtlinge zurückhalten soll: "Geflüchtete werden versklavt, bis ihre Angehörigen ihre letzte Habe verkaufen, um sie freizukaufen. Geflüchtete Frauen werden systematisch vergewaltigt", berichtet Marquardt. Er gibt zu bedenken: Die EU könne und wolle auch gar nicht einen Abschreckungswettbewerb um das menschenfeindlichste Gastland gewinnen, weshalb Menschen weiter Wege nach Europa suchen und finden werden.
Das UNHCR als Mittlerinstanz
Offen ist auch, wer in einem externen Verfahren die Asylprüfung übernimmt. "Ich kann mir in erster Linie vorstellen, dass das UNHCR in die Antragsprüfung einbezogen wird, weniger aber, dass ein Land außerhalb der Europäischen Union das Verfahren übernimmt", sagt die FDP-Abgeordnete Jurisch. Das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) wird in der Debatte auch von anderen Politikern und Experten als möglicher Partner genannt. Seit Jahren werden über sogenannte Resettlement-Programme besonders schutzbedürftige Menschen in Flüchtlingslagern vom UNHCR ausgewählt und an Partnerländern vermittelt. Auch Deutschland beteiligt sich hieran und fliegt so jährlich wenige Tausend vorab überprüfte Menschen zur Aufnahme ein. Ein ähnliches Abkommen gibt es mit der Türkei, jährlich 3000 dort untergekommene Flüchtlinge aus Syrien aufzunehmen. Ob das UNHCR diese Vorauswahl auch anderswo übernehmen könnte, könnte im Rahmen des Prüfauftrags geklärt werden.
Pro Asyl sieht diesen Weg gespalten: Wenn Deutschland nur noch Menschen in Kontingenten aufnehmen würde, ließe sich diese Zahl je nach politischer Stimmung auch wieder herunterfahren. "Für spontan fliehende Menschen stellen Flüchtlingskontingente keine Lösung dar", sagt Judith. Organisationen wie Pro Asyl befürchten, dass Drittstaatenkonzepte vor allem den individuellen Flüchtlingsschutz in Europa umgehen sollen. Fraglich bleibt zudem, wie Deutschland mit Menschen verfahren soll, die dennoch weiterhin die Bundesrepublik erreichen und die weiter nicht von jenen Ländern zurückgenommen werden, wo sie zuerst europäischen Boden betreten haben.
Marquardt warnt zudem vor dem Beispiel des EU-Türkei-Deals: "Die EU-Staaten machen sich von der Kooperationsbereitschaft autoritär regierter Staaten abhängig: Europa wird erpressbar und zahlt diesen Ländern viel Geld, damit Menschen mit Schutzanspruch am Ende unter unwürdigen Bedingungen außerhalb verbleiben." Auch Jurisch ist wenig optimistisch, dass in kurzer Zeit ein gangbares Drittstaatenverfahren gefunden werden kann. "Das wird ein längerer Prozess", sagt sie. "Aber wichtig ist das Signal, dass man willens ist, zu einer geordneten Migration zu finden."
Quelle: ntv.de