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Wer wird abgeschoben, wer nicht? Die entscheidenden fünf Tage nach Ankunft eines Flüchtlings

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Flüchtlinge auf Lampedusa. Die Screening-Verordnung der EU soll regeln, ob Migranten nach ihrer Ankunft in Europa in ein Grenzverfahren kommen, bei dem sie schnell abgeschoben werden können.

Flüchtlinge auf Lampedusa. Die Screening-Verordnung der EU soll regeln, ob Migranten nach ihrer Ankunft in Europa in ein Grenzverfahren kommen, bei dem sie schnell abgeschoben werden können.

(Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS)

Die CDU fordert, dass Flüchtlinge direkt nach ihrer Ankunft in Europa nach Ruanda oder Tunesien weitergeschickt werden. Doch die EU will ihre Asylverfahren im eigenen Territorium behalten. Dabei wird in nur fünf Tagen entschieden, was mit den Migranten geschieht.

Wie das Leben eines Flüchtlings weitergeht, entscheidet sich in den ersten fünf Tagen nach seiner Ankunft in der Europäischen Union. Das zumindest sieht die sogenannte Screening-Verordnung vor, die das Europäische Parlament momentan mit den Mitgliedsstaaten im Rat der EU verhandelt. In diesen fünf Tagen wird demnach geprüft, ob der irregulär eingereiste Migrant überhaupt eine Chance auf Asyl hat oder vor seiner Abschiebung einige Wochen in Lagern an den Außengrenzen untergebracht wird. Das Grenzverfahren soll er dann nicht etwa in Ruanda oder Tunesien durchlaufen, wie von einigen CDU-Politikern gefordert wird, sondern innerhalb der EU.

Falls ein Asylverfahren geringe Aussicht auf Erfolg hat, etwa weil der Ankömmling aus einem Land mit einer Anerkennungsquote unter 20 Prozent stammt, kommt er in ein Aufnahmezentrum mit haftähnlichen Bedingungen. Dann wird ihm die Einreise verweigert, obwohl er das Territorium der EU bereits betreten hat. "Die rechtliche Situation kann man sich vorstellen wie in einem Flughafen", sagt Jan-Christoph Oetjen, ein FDP-Abgeordneter des Europäischen Parlaments, der die Screening-Verordnung mitverhandelt, im Gespräch mit ntv.de. "Wenn Sie ankommen, sind Sie schon in dem Land. Aber Sie sind erst eingereist, wenn Sie die Passkontrolle hinter sich haben und Ihr Visum kontrolliert wurde." In einer ähnlichen Situation befänden sich die Migranten, die für ein Schnellverfahren in den Lagern an der Außengrenze untergebracht werden und anschließend einen negativen Asylbescheid bekommen, so Oetjen.

Diese rechtliche Feinheit bietet Vorteile, um Abschiebungen durchsetzen zu können. Rückführungen abgelehnter Asylbewerber scheitern immer wieder an der Weigerung der Heimatländer, ihre Landsleute wiederaufzunehmen. Da die Bundesregierung dieses Problem erkannt hat, kündigte Bundeskanzler Olaf Scholz wiederholt an, mehr Migrationsabkommen mit Herkunftsstaaten schließen zu wollen. Solche Abkommen existieren bereits mit vielen Ländern, sowohl auf Bundes- als auch auf EU-Ebene. Doch sie sind rechtlich nicht bindend. Anders verhält es sich, wenn einem Flüchtling durch die Screening-Verordnung die Einreise in den Schengenraum verwehrt wird. Dann besteht die Pflicht zur Ausreise und anschließenden Wiederaufnahme durch andere Staaten. Abgeschoben werde allerdings nicht in das Herkunftsland, sondern in den Transitstaat, aus dem der Flüchtling nach Europa gereist sei, so Oetjen.

Ankunftsstaaten könnten Migranten weiter durchwinken

Ob auch Kindern die Einreise verweigert wird, muss in den Verhandlungen geklärt werden. Generell ist noch offen, wem Schutz gewährt wird. In seiner Verhandlungsposition hat das Europäische Parlament auf die Liste der schutzbedürftigen Personen neben Minderjährigen auch "schwangere Frauen, ältere Menschen, Alleinerziehende, Opfer des Menschenhandels, schwer kranke Menschen, Menschen mit einer psychischen Störung, Menschen mit einer körperlichen oder geistigen Behinderung sowie Menschen, die Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt erlitten haben," gesetzt.

Während des Screenings soll nicht nur die Chance auf Asyl geprüft werden. Migranten werden in den Ankunftsstaaten auch identifiziert und einem Gesundheits- und Sicherheitscheck unterzogen. Diese Staaten tragen durch den Migrationspakt insgesamt mehr Verantwortung. Zwar sollen sie entlastet werden, indem Menschen mit Aussicht auf eine Aufenthaltserlaubnis auf andere EU-Länder verteilt werden. Doch sie sind nach aktuellen Plänen auch zuständig für die schnellen Grenzverfahren für diejenigen, die so gut wie chancenlos sind.

Dabei stellt sich die Frage, was die Ankunftsstaaten tun werden, wenn sie sich trotz der neuen Asylregeln überlastet fühlen. Falls die im neuen Migrationspakt beschworene Solidarität aus ihrer Sicht zu wünschen übriglässt, könnten sie wieder dazu übergehen, Flüchtlinge einfach passieren zu lassen, was bislang oft der Fall ist. "Das heißt, es gibt aktuell keine Registrierung, keine Differenzierung, die Flüchtlinge werden einfach durchgeleitet. Das muss aufhören. Sonst funktioniert das System der Europäischen Union nicht, das auf Vertrauen basiert", sagt Oetjen. Falls sich Länder nicht an Regeln halten, müsse die EU-Kommission durchgreifen und notfalls etwa Vertragsverletzungsverfahren einleiten, fügt er hinzu.

"Ruanda-Modell" wirft juristische Fragen auf

Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni sendete am Dienstag ein deutliches Signal, dass sie wenig Lust dazu hat, die Verantwortung für Grenzverfahren zu tragen. Ohne sich mit ihren europäischen Partnern abzusprechen, unterzeichnete sie ein Migrationsabkommen mit Albanien, um dort zwei Aufnahmezentren für Flüchtlinge zu errichten, die in Booten auf dem Mittelmeer abgefangen werden. In den nordalbanischen Städten Shengjin und Gjader sollen die Migranten dann ihren Asylbescheid abwarten. Meloni stellt somit die Verhandlungen zum Migrationspakt infrage, der die Lager und Grenzverfahren bislang eindeutig innerhalb der EU vorsieht.

Auch deutsche Politiker hegen offenbar Zweifel daran, dass Ankunftsstaaten wie Italien die Migranten nicht weiterhin durchwinken. Hierzulande werden deshalb ebenfalls Forderungen nach der Auslagerung von Asylverfahren in Drittländer laut. Die CDU-geführten Bundesländer hatten bei der Ministerpräsidentenkonferenz am Montag durchgesetzt, dass die Bundesregierung externe Asylverfahren prüft. Die Union denkt dabei auch explizit an das sogenannte "Ruanda-Modell". Als Vorbild dient Großbritannien, das plant, irregulär eingereiste Migranten ungeachtet ihrer Herkunft und ohne Prüfung festzusetzen, um sie anschließend für ihr Asylverfahren nach Ruanda auszufliegen. Auch Dänemark und Österreich fordern ein solches Modell für die EU.

Diese Idee wirft jedoch allerlei juristische Fragen auf, über die bereits Großbritannien stolperte. Ende Juni entschied ein britisches Berufungsgericht, dass Ruanda nicht genug Sicherheit für Asylbewerber biete. Die Richter kamen zu dem Schluss, dass die Mängel des Asylsystems in dem ostafrikanischen Land zu groß seien. Es bestehe ein Risiko, dass nach Ruanda abgeschobene Asylbewerber in ihre Heimatländer zurückgeschickt würden, wo ihnen unmenschliche Behandlung drohe. Nun soll das oberste Gericht, der Supreme Court, entscheiden.

EU-Kommission hält an Migrationsabkommen mit Tunesien fest

Hendrik Wüst, Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, schlug zudem vor, Asylverfahren in Staaten in Nordafrika auszulagern. Tatsächlich arbeitet die Kommission bereits an einem Migrationsabkommen mit Tunesien, das Flüchtlingsboote in ihrem Auftrag am Ablegen hindern soll. Doch auch hierbei gibt es Probleme. Tunesiens Präsident Kais Saied lehnte die von der EU-Kommission angekündigte Finanzhilfen in Millionenhöhe ab, die dem Land beim Kampf gegen irreguläre Migration helfen und dessen Haushalt stabilisieren sollen. Tunesien "nimmt nichts an, was Gnaden oder Almosen ähnelt", sagte Saied Anfang Oktober.

Das heißt allerdings noch nicht, dass das Abkommen vor dem Aus steht. Die Kommission treibt die Verhandlungen weiter voran, wie ein Sprecher auf Anfrage von ntv.de mitteilt. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen verweist in einem Schreiben an die Staats- und Regierungschefs der EU, das ntv.de vorliegt, auf die notwendige Zusammenarbeit mit Tunesien und anderen Staaten, um Migrationsprobleme zu lösen. Als einen Beleg dafür, dass der Gesprächsfaden nach Tunis nicht abgebrochen ist, nennt von der Leyen die Lieferung von Ersatzteilen für die tunesische Küstenwache, mit denen "sechs Boote einsatzbereit gehalten werden".

Die Kommission setzt also weiter auf Tunesien, wenn es um das Abfangen von Flüchtlingen geht. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass sie Asylverfahren in Drittstaaten befürwortet. So reagierte sie auf den Wunsch Österreichs, Asylbewerber nach Ruanda auszufliegen, mit Skepsis. Die Asylgesetze würden aktuell nur für Asylanfragen gelten, die auf europäischem Territorium gemacht wurden und nicht außerhalb, erklärte eine Sprecherin der Brüsseler Behörde laut dem ORF.

Quelle: ntv.de

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