Europa, Trump und die Ukraine "Wir haben die Zeit der Biden-Präsidentschaft nicht genutzt"
27.10.2024, 09:06 Uhr Artikel anhören
Der ukrainische Staatschef Wolodymyr Selenskyj und US-Präsidentschaftskandidat Donald Trump
(Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com)
Bald könnte Donald Trump die USA regieren und die bisherige Ukraine-Politik ihrer westlichen Verbündeten über den Haufen werfen. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, SPD-Politiker Michael Roth, sieht Europa schlecht darauf vorbereitet. Aber: "Es ist nicht zu spät für Europa, alles in die Waagschale zu werfen", sagt Roth im Interview mit ntv.de. Europa dürfe seine Ukraine-Politik nicht länger so sehr an russischen Eskalationsandrohungen ausrichten, fordert Roth weiter. Dem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), das bald in drei Ländern mitregieren könnte, wirft Roth "Verrat" an deutschen Interessen vor.

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Michael Roth war seit 1998 Mitglied des Deutschen Bundestages und in der vergangenen Legislaturperiode Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses. Der Sozialdemokrat vertrat im Bundestag den nordhessischen Wahlkreis Hersfeld-Rotenburg Werra-Meißner-Kreis. Bis 2021 war Roth acht Jahre lang Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt. Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 gehörte Roth innerhalb der SPD zu den exponiertesten Befürwortern einer militärischen Unterstützung der Ukraine - und stieß dabei teils auf scharfen Widerspruch. Zur vergangenen Bundestagswahl trat Roth nicht mehr an. Am 18. September erscheint sein Buch "Zonen der Angst. Über Leben und Leidenschaft in der Politik".
ntv.de: Wie schauen Sie als Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses auf die US-Präsidentschaftswahlen?
Michael Roth: Ich bin froh, wenn es endlich entschieden ist. Die amerikanische Gesellschaft ist zutiefst gespalten und sehr polarisiert. Viele Menschen dort sind im Wahlkampf gar nicht mehr mit Argumenten zu erreichen. Sonst müssten mehr republikanische Wählerinnen und Wähler ins Grübeln kommen, wenn sie sehen, wie Donald Trump sich aufführt und was er mit dem Land vorhat.
Welchen Ausgang erwarten Sie?
Es wird so oder so eng. Spannend bleibt, wie Kamala Harris die noch verbleibenden Tage nutzt. Ob ihr noch ein Fehler unterläuft. Fehler auf der Trumpschen Seite zahlen offenkundig nicht negativ ein. Sein Wählerblock ist gesetzt. Aber weil viele mit Kamala Harris politisch noch wenig anzufangen wissen, ist ihr Risiko viel größer, sich angreifbar zu machen. Das ist die strukturelle Unfairness dieses Wahlkampfes: Die eine Kandidatin wird mit Argusaugen bewacht, kontrolliert und bewertet. Der andere kann sich alles erlauben. Seine Wählerschaft bleibt ihm trotzdem treu.
In Deutschland rufen die US-Präsidentschaftswahlen immer öfter Befremden hervor. Gerade für die Bundesrepublik waren die USA aber lange Richtschnur, was freiheitliche Demokratien ausmacht. Gilt das noch?
Global sind die USA weiter ein wichtiger Ankerpunkt. Das gilt insbesondere für die Jahre unter Joe Biden, für die US-Unterstützung der Ukraine und auch für die Auseinandersetzung mit einem immer autoritäreren China. Für Deutschland gilt: Ohne die USA hätte es diese stabile Demokratie bei uns nach dem NS-Terror nie gegeben. Aber wir Europäer sollten in Sachen Demokratie und Freiheit inzwischen flügge geworden sein. Zugleich erleben wir bei uns ähnliche Bewährungsproben: die dramatische Herausforderung von Populismus und Nationalismus. Letztlich sitzen die USA und Europa dann doch wieder im selben Boot.
Wenn die liberalen Demokratien derzeit - wie in der Ukraine - ein Rückzugsgefecht kämpfen, könnte die Wiederwahl von Donald Trump schon der entscheidende Schlag werden?
Ich muss Ihnen widersprechen. Nicht wenige in Deutschland halten den Krieg in der Ukraine für einen rein regionalen Konflikt, aus dem wir uns heraushalten sollten. Mit so einer Haltung haben Parteien im vergangenen Sommer sogar Mehrheiten in Bundesländern gewonnen.
… diese Parteien hegen aber auch Sympathien für Autokraten …
Richtig. Der Autoritarismus hat einen wachsenden Fanblock auch in Deutschland. Diese Menschen können nicht mehr viel anfangen mit der Komplexität von Demokratie, mit den Anstrengungen der Kompromissfindung in einer vielfältigen und zunehmend stressigen Gesellschaft. Die wollen lieber Führung, auch wenn sie schlussendlich in den Krieg führt wie bei Wladimir Putin. Die autoritären Regime, ob Russland oder China, wollen den Westen zerstören. Das meine ich nicht geografisch, ich meine im Sinne von Heinrich August Winkler die Idee von freiheitlicher Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. In dieser Lage hat Europa wie das Kaninchen auf die Schlange geschaut: Wird es Harris oder Trump? Wir haben die Zeit der Biden-Präsidentschaft nicht genutzt, um uns neu aufzustellen.
Das gilt vor allem für die Ukraine-Frage, weil eine militärische Unterstützung des Landes durch Donald Trump als unsicher gilt. Aber ist es vielleicht an der Zeit für neue Ansätze durch so einen unkonventionellen US-Präsidenten, um irgendwie zu einem Ende des Krieges zu kommen?
Welcher Ansatz soll denn das sein? Wenn ich Trump richtig verstanden habe, will er einen Deal mit Putin über die Köpfe der Ukrainerinnen und Ukrainer hinweg. Ich prophezeie Ihnen: Wenn der russische Imperialismus in der Ukraine obsiegt, folgen weitere militärische Konflikte. Dieser Krieg, vor dem manche meinen, uns schützen zu müssen, wird doch längst ausgetragen mitten in Europa, in Staaten, die zur EU gehören wollen und im Übrigen auch in Deutschland. Hier stehen keine russischen Panzer, aber Russland nutzt hybride Mittel wie Desinformation, Cyberangriffe und Sabotage, um Deutschland zu destabilisieren. Der Kreml streut sein Gift in Deutschland. Dieses Gift richtet sich gegen die Demokratie.
Diese Bedrohung würde aber auch bei einem für die Ukraine akzeptablen Frieden bestehen bleiben, solange der Westen Putin nicht aus dem Amt bombt.
Das ist weder unser Ziel noch eine Möglichkeit. Der Wechsel im Kreml muss aus Russland selbst erfolgen. Ich bin aber sehr skeptisch, dass das passiert. Es rächt sich gerade, dass sich der Westen nie strategisch einig war, was wir in der Ukraine erreichen wollen. Die einen sprechen davon, Russland dürfe nicht gewinnen, die Ukraine dürfe nicht verlieren. Andere - so wie ich - wollen, dass die Ukraine gewinnt und Russland diesen verbrecherischen Krieg verliert. Das hört sich nach rhetorischem Feintuning an. Ist es aber nicht.
Wo ist der Unterschied?
Viele erwarten von der Ukraine eine Hinnahme von substanziellen Gebietsabtritten oder einen eingefrorenen Konflikt. Hätte dann Russland nicht gewonnen? Was fordern wir eigentlich von Russland außer, dass es sich aus der Ukraine wieder zurückzieht? Die Ukraine muss frei, demokratisch und selbstbestimmt bleiben. Das wäre für mich ein Sieg der Ukraine, weil Putin ja genau das nicht will. Darüber gibt es aber genauso wenig Konsens wie über die Frage, wie wir zu Verhandlungen mit Russland kommen.
Was schlagen Sie vor?
Es ist spät, aber nicht zu spät für Europa, alles in die Waagschale zu werfen, damit Putin die Aussichtslosigkeit seines Krieges endlich begreift. Die EU wäre dazu in der Lage, wenn auch unter erheblichen Schmerzen. Doch viele große EU-Staaten ducken sich gerade weg.
Bundeskanzler Olaf Scholz lässt derzeit auch keine Bereitschaft erkennen, die militärische Unterstützung qualitativ und quantitativ hochzufahren.
Deutschland kann für sich in Anspruch nehmen, viel getan zu haben. Aber es hat nicht gereicht, Russland das klare Signal zu setzen: Erstens unsere militärische und politische Unterstützung für die Ukraine wird nicht nachlassen. Zweitens lassen wir uns auch nicht auf Putins Spiel ständiger Eskalationsandrohungen ein, auch nicht bei perspektivischer Mitgliedschaft der Ukraine in EU und NATO. Drittens üben wir diplomatischen und wirtschaftlichen Druck auf die Staaten aus, die Russland ganz offen unterstützen: China, Iran, Nordkorea. Auf diesen Dreiklang kommt es an.
Das heißt?
Wir müssen noch deutlich mehr tun. Kluge Leute sagen mir, dass die Zeit gegen Russland läuft. Putin kann diese Kriegsmaschinerie nicht endlos am Laufen halten. Das Problem ist die Unterstützung Russlands durch Länder wie China und dass Länder wie Indien oder Südafrika sich neutral geben. Die blicken historisch bedingt anders auf diesen Krieg. Wir müssen denen klarmachen, dass heute Russland die gefährlichste und expansionistischste Kolonialmacht der Welt ist.
Die Bundesregierung hat sich seit Beginn der russischen Vollinvasion um diese Staaten intensiv bemüht, auch um Brasilien. Viel genützt hat das aber nicht.
Aber auch diese Länder haben Interesse an einem großen, sicheren und stabilen europäischen Markt. Sie wollen unsere Investitionen und Innovationen. Wir haben viel zu bieten. Aber Europa ist auch für viele Regierungen nervig. Unser Pochen auf Rechtsstaatlichkeit, Korruptionsbekämpfung und Teilhabe: So ein vermeintliches "Gequatsche" muss sich von Moskau und Peking niemand anhören. Wir sind bisher nicht damit durchgedrungen, den Mehrwert einer Partnerschaft auf Augenhöhe mit Europa deutlich zu machen. Dafür müssten wir aber auch nach außen geschlossen auftreten. Stattdessen bietet gerade die EU ständig Ansatzpunkte, uns zu spalten.
Olaf Scholz steht mit seiner Unterstützung der Ukraine zunehmend allein da unter den europäischen Führungsnationen. Was nützt es da, wenn Deutschland noch entschiedener voranginge?
Es gibt ein massives Führungsvakuum in der Europäischen Union. Das hat viele Gründe: Emmanuel Macrons innenpolitische Schwäche in Frankreich, der Fokus der polnischen Regierung auf Innenpolitik, um eine Rückkehr der PiS zu verhindern, und natürlich die permanenten Streitereien in der Bundesregierung. Wir haben es als EU verpasst, uns auf ein Trump-Szenario auch nur ansatzweise vorzubereiten. Das wäre aber in jedem Fall nötig gewesen. Einen Transatlantiker alter Schule wie Joe Biden wird es absehbar nicht mehr geben. Das war Barack Obama schon nicht mehr und auch Kamala Harris tickt anders. Noch einmal: Wir haben die Biden-Jahre als Verschnaufpause nicht genutzt.
Unionskanzlerkandidat Friedrich Merz hat den Bundeskanzler aufgefordert, die Reichweitenbeschränkung für westliche Waffen aufzuheben und auch Taurus zu liefern, wenn Putin weiter zivile Ziele in der Ukraine bombardiert. Zu Recht?
Während der Landtagswahlen im Osten habe ich von Friedrich Merz nichts zur Ukraine gehört. Die militärische Unterstützung der Ukraine war im dortigen Wählermilieu der Union ähnlich unpopulär wie bei dem der SPD. Stattdessen hat Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer den Ton angegeben mit seinen Rufen nach Diplomatie statt Waffen. Sich jetzt erst so zu äußern, ist also recht billig von Friedrich Merz. Das ändert aber nichts daran, dass er in einem Punkt recht hat: Wir richten unsere Politik zu sehr an den russischen Drohungen aus. Natürlich muss man eine Atommacht ernst nehmen. Aber ich komme in meiner Risikoabwägung zu einem anderen Schluss.
Nämlich?
Putin wird nicht aufhören, die Infrastruktur der Ukraine anzugreifen, solange die Ukraine nicht die militärische Infrastruktur in Russland zerstört. In der Ukraine sind jetzt schon so viele Heizkraftwerke zerbombt, dass die Lieferung von ein paar Notstromaggregaten nicht mehr reichen wird. Möglicherweise werden diesen Winter viele Ukrainerinnen und Ukrainer nach Deutschland kommen, weil sie in ihren unbeheizten Wohnungen schlicht nicht überleben können. Jede Entscheidung hat ihren Preis.
Tatsächlich riskiert Merz ja etwas: die Koalitionsbildungen in Sachsen und Thüringen. Sahra Wagenknecht ist entrüstet über seine Äußerungen und fordert die jeweilige Landes-CDU zur Distanzierung vom Parteichef auf.
Sahra Wagenknecht entlarvt sich wieder selbst. Es geht ihr weder um Sachsen noch um Brandenburg oder Thüringen. Frau Wagenknecht geht es nur um ihren Machtanspruch im Bund. Das BSW sollte überhaupt keine Verantwortung in diesem Land bekommen, weil das brandgefährliche Populisten sind. BSW und AfD betreiben einen Verrat an deutschen Interessen. In ihrem Antiamerikanismus fordern beide einen Verzicht Deutschlands auf den atomaren und konventionellen Schutzschirm der USA. Aufrüsten sollen wir aber auch nicht. BSW und AfD würden uns schutzlos Russland und China ausliefern. Das ist nicht die Vertretung deutscher Interessen, das ist Verrat.
Mit Brandenburgs Ministerpräsidenten Dietmar Woidke verhandelt auch ein Sozialdemokrat über eine Regierungsbildung mit dem BSW.
Ich sehe das Dilemma, es ist furchtbar. Ich kenne Sahra Wagenknecht und kann mir eine politische Zusammenarbeit einfach nicht vorstellen. Das BSW in den Ländern muss sich nun entscheiden: Wollen diese Politiker und Politikerinnen Verantwortung für ihre Bundesländer übernehmen? Oder sind sie nur Zöglinge und servile Diener von Frau Wagenknecht?
Mit Michael Roth sprach Sebastian Huld
Quelle: ntv.de