Noma zerfrisst das Gesicht Diese Infektion tötet jährlich Zehntausende Kinder


Jedes Jahr erkranken schätzungsweise 140.000 Kinder an Noma - und nur etwa 10 Prozent von ihnen überleben.
(Foto: picture alliance / dpa)
Bakterien fressen sich durch ihre Wangen, Kiefer, Nasen und Lippen: Mehr als 100.000 Heranwachsende im Globalen Süden erkranken jedes Jahr an Noma. 90 Prozent von ihnen sterben. Und die wenigen, die überleben, sind für den Rest ihres Lebens entstellt. Von ihrem Leid bekommt der Westen jedoch nichts mit. Zudem wird zur Krankheit kaum geforscht.
"Es war, als hätte ich Fieber", erinnert sich die 18-jährige Amina an den Tag, als sie bemerkte, dass sie krank ist. "Meine beiden Ohren schwollen an. Als ich eine Hand auf mein Gesicht legte, fühlte ich, dass eine Stelle weich war. Ich lag allein da und musste weinen. Ich berührte meine Wangen und spürte, dass sich dort ein Loch gebildet hatte."
Aminas Erzählung ist Teil des Dokumentarfilms "Restoring Dignity", der das Leben von jungen Patientinnen und Patienten in einem Krankenhaus im nigerianischen Sokoto begleitet. Sie alle haben schwer entstellte Gesichter. Wo Nase, Wange oder Kiefer sein sollte, ist oft nur noch ein vernarbtes Loch. Bei Amina ist die komplette Mund- und Kieferpartie deformiert. Anderen fehlen die Lippen, manchen die Nase. Dabei sind viele der Patientinnen und Patienten nicht einmal sechs Jahre alt.
Schuld an ihrem Leid ist eine Krankheit, die in Afrika südlich der Sahara weitverbreitet ist, im Westen hingegen kaum jemand kennt: Noma (gangränöse Stomatitis). Die nicht-ansteckende bakterielle Infektion wird auch Wangenbrand genannt und betrifft hauptsächlich Kinder zwischen zwei und sechs Jahren. Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sterben weltweit jedes Jahr zwischen 80.000 und 90.000 Kinder an der Krankheit. Diese beginnt meist unspezifisch mit Zahnfleischbluten, gerötetem Gaumen und leichtem Mundgeruch. In diesem Stadium wäre Noma noch leicht und erfolgreich therapierbar. Die Gabe eines Breitband-Antibiotikums würde reichen, um Betroffene zu heilen.
Irreversible Schäden im Gesicht
Doch in den Regionen, wo Noma auftritt, ist den Menschen oft zu wenig über die Krankheit bekannt. So werden Symptome nicht richtig gedeutet und die Infektion breitet sich unbehandelt innerhalb weniger Tag aus. Die Bakterien fressen sich zunächst durch die Weichteile im Gesicht wie Lippen und Wangen und greifen anschließend Knorpelstrukturen und Knochen an.

Die 18-jährige Amina leidet als Folge der Infektion an einer Kiefersperre und wird in ihrem Heimatort diskriminiert.
(Foto: Ärzte ohne Grenzen/"Restoring Dignity")
"Die Zeitspanne, um die Krankheit zu erkennen und zu behandeln, ist extrem kurz", sagt Peter Steinmann, Epidemiologe am Schweizerischen Tropen- und Public Health Institut und der Universität Basel. Bereits nach zehn bis zwölf Tagen seien die Schäden im Gesicht irreversibel. Neun von zehn Kindern sterben an den Folgen der Krankheit, da sie nicht rechtzeitig diagnostiziert und behandelt werden: "Bis betroffene Kinder von Orten mit schlechter Gesundheitsversorgung ins Gesundheitszentrum kommen, ist es oft schon zu spät", sagt Steinmann.
Sprechen, Essen, Atmen werden zur Qual
Doch auch die wenigen Kinder, die überleben, haben häufig ihr Leben lang einen hohen Leidensdruck. Sie haben oft große Teile ihres Gesichts verloren. Das Sprechen, Essen und manchmal sogar das Atmen werden deshalb zur Qual. Hinzu kommen psychische und soziale Probleme. Aufgrund der Wunden und Entstellungen werden Noma-Überlebende häufig stigmatisiert, diskriminiert und ausgegrenzt. Die Kinder trauen sich nicht mehr in die Schule. Nicht selten sind es aber auch die Eltern, die sie aus Scham aus der Öffentlichkeit fernhalten und sie verstecken.
Einen Zufluchtsort bietet ein auf die Erkrankung spezialisiertes Krankenhaus in Sokoto, eine Stadt im Nordwesten Nigerias. Es ist die einzige Noma-Klinik des Landes - und eine der wenigen weltweit. Hier können Überlebende wie Amina anderen Menschen begegnen, die ebenfalls an Noma leiden und ähnliche Erfahrungen gemacht haben.

Sakina ist erst vier Jahre alt und hat bereits drei Operationen hinter sich. Dennoch erlebt sie immer noch häufige Rückfälle aufgrund Mangelernährung und schlechter Lebensbedingungen.
(Foto: Ärzte ohne Grenzen)
"Die Kinder können rausgehen, sie spielen mit anderen Kindern, sie lachen", erzählt die deutsche Krankenschwester Fabia Casti im Podcast "Notaufnahme" von der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen. Sie hat neun Monate lang in dem Noma-Krankenhaus gearbeitet und viele Patientinnen und Patienten betreut. "Man merkt manchmal gar nicht, dass diese Kinder Noma haben und überlebt haben."
Das Krankenhaus ermöglicht den Betroffenen neben Gemeinschaft und einer kostenlosen Gesundheitsversorgung auch rekonstruktive Operationen. Das ist oft die einzige Chance auf ein besseres Leben. Doch die Behandlungsschritte sind anspruchsvoll und erfordern meist einen langen Krankenhausaufenthalt. Einige Kinder müssen zuerst wegen Mangelernährung oder anderen Krankheiten behandelt werden. Erst dann kann die Operation durchgeführt werden.
Im Westen vernachlässigt
Von ihrem Leid wissen im Westen nur wenige Menschen. So bezeichnete die Initiative Nachrichtenaufklärung erst kürzlich Noma aufgrund des weitgehenden Nichtvorkommens in deutschen Medien als eine der vergessenen Nachrichten des Jahres 2024. "Ebola und Malaria sind bekannte Beispiele für Tropenkrankheiten, von denen jede/r gehört hat und über die auch häufig berichtet wird", schreibt die Initiative. "Die bakterielle Infektion Noma wird indessen vernachlässigt."

Pathologisch-anatomische Zeichnung von Robert Froriep von 1836: Damals war Noma auch noch in Europa verbreitet.
(Foto: Robert Froriep)
Doch nicht nur medial, auch die medizinische Forschung schenkt der Krankheit wenig bis keine Aufmerksamkeit. Warum? Für Ärzte ohne Grenzen ist das eindeutig: "Im Zentrum des globalen Gesundheitssystems stehen aktuell nicht die Gesundheitsbedürfnisse von Menschen weltweit", schreibt die Organisation auf ihrer Website. Vielmehr funktioniere das System nach wirtschaftlichen Dynamiken und verfolge das Ziel, Profite zu erzielen. "Die gravierende Konsequenz ist, dass in die Erforschung vieler Krankheiten erst gar nicht investiert wird. Insbesondere in die Krankheiten, von denen hauptsächlich Menschen im Globalen Süden betroffen sind, wird wenig investiert." So wie im Fall von Noma.
Die Folge: Noma ist kaum erforscht. Man geht davon aus, dass die Erkrankung als Folge einer bakteriellen Infektion bei gleichzeitig geschwächtem Immunsystem entsteht.Dazu kann Epidemiologe Steinmann zufolge eine extreme Mangelernährung führen, aber auch eine kürzlich durchgemachte Masern- oder Malariaerkrankung. "Auch ein Mangel an Vitaminen oder Mineralien könnte die Kinder anfälliger für Noma machen", sagt der Experte. Was jedoch genau die Ursache ist, ist bis heute unklar. Vermutlich sind eigentlich harmlose Bakterien beteiligt, die natürlicherweise im Mund vorkommen, sich aber infolge eines geschwächten Immunsystems unkontrolliert ausbreiten. Das ist bislang jedoch nur eine Theorie.
An Noma sollte eigentlich niemand mehr leiden
Die Krankheit tritt aktuell vor allem in extrem armen Gebieten in Afrika, Indien, Ostasien, Südostasien und Lateinamerika auf. Daher wird Noma auch als "Gesicht der Armut" bezeichnet. Auch in Europa war die Krankheit einst verbreitet. Doch dank gestiegener Gesundheitsversorgung und höherem Lebensstandard ist sie hier komplett verschwunden und damit auch in Vergessenheit geraten. Die letzten Fälle wurden während des Zweiten Weltkriegs in Konzentrationslagern beobachtet.
Ein kleiner Lichtblick für die Betroffenen ist immerhin, dass die WHO Noma endlich auf die offizielle Liste der vernachlässigten Tropenkrankheiten (neglected tropical diseases, NTDs) aufgenommen hat. "Wir hoffen, dass diese Entscheidung ein Schlaglicht auf die Krankheit wirft", sagte Mark Sherlock, der bei Ärzte ohne Grenzen die medizinischen Programme zu Noma leitet, damals als Reaktion auf die Entscheidung. Das könnte auch neue Türen für die Finanzierung von Forschungsprogrammen öffnen, um Noma besser zu verstehen. Durch das offizielle Engagement der WHO könnte zudem die Kontrolle und Eliminierung, die Prävention und Behandlung von Noma in betroffenen Gebieten verbessert werden.
"An dieser behandelbaren Krankheit sollte eigentlich niemand leiden und sterben müssen", sagt Steinmann. "Alles, was es dazu braucht, sind Ernährungssicherheit und minimal funktionierende Gesundheitssysteme, die auch abgeschiedene Bevölkerungsgruppen erreichen."
Quelle: ntv.de