"Katrina" liefert Daten Klimakrise bedeutet mehr Gewalt für Frauen und Minderheiten
14.06.2022, 17:04 Uhr
Eine der Studien hatte die Folgen des Hurrikans "Katrina" ausgewertet.
(Foto: ASSOCIATED PRESS)
Die Klimakrise betrifft offenbar nicht alle Menschen gleichermaßen. Dabei gibt es nicht nur regionale Aspekte, sondern auch Geschlechterunterschiede. Eine Studie zeigt erheblich höhere Gewaltgefahren für Frauen und sexuelle Minderheiten.
Die Klimakrise führt zu heftigeren und häufigeren Extremwetterereignissen. Das ist inzwischen bekannt. Die Folgen der Klimaveränderungen sind jedoch noch sehr viel komplexer und greifen tief in das menschliche Zusammenleben ein. Ein Forschungsteam von der Universität Cambridge kommt jetzt in einer Studie zu dem Schluss, dass klimabedingte Ereignisse das Risiko von Gewalt gegen Frauen und Minderheiten erhöhen.
In einer in "The Lancet Planetary Health" veröffentlichten Studie analysierte das Team unter der Leitung von Kim Robin van Daalen von der University of Cambridge die aktuelle wissenschaftliche Literatur. Das Team identifizierte 41 Studien, die verschiedene Extremereignissen wie Stürme, Überschwemmungen, Dürren, Hitzewellen und Waldbrände auf Folgen wie sexuelle, emotionale oder körperliche Gewalt, Belästigung, "Hexen"-Mord sowie frühe und erzwungene Ehen untersucht hatten. Die Studien deckten Länder auf allen Kontinenten ab und alle bis auf eine konzentrierten sich auf Cisgender-Frauen und -Mädchen. Dabei fanden die Forschenden Beweise dafür, dass Extremereignisse zu wirtschaftlicher Instabilität, Ernährungsunsicherheit und psychischem Stress führen, die Infrastruktur stören und die Ungleichheit der Geschlechter verschärfen.
Allein von Überschwemmungen, Dürren und Stürmen waren nach Angaben der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zwischen 2000 und 2019 weltweit fast vier Milliarden Menschen betroffen. Mehr als 300.000 Menschen starben. In den letzten zwei Jahrzehnten nahm die Häufigkeit von Überschwemmungen um 134 Prozent, von Stürmen um 40 Prozent und von Dürren um 29 Prozent zu. Mit fortschreitendem Klimawandel werden diese Zahlen voraussichtlich weiter steigen.
Langfristige Folgen zu erwarten
Schon in der Vergangenheit sei nach menschengemachten oder Naturkatastrophen mehr geschlechtsspezifische Gewalt beobachtet worden, schlussfolgern sie aus ihrer Analyse. Dies führen die Studienautorinnen und -autoren unter anderem auf sozioökonomische Instabilität, strukturelle Machtungleichheiten, Unzugänglichkeit der Gesundheitsversorgung, Ressourcenknappheit und Zusammenbrüche bei Sicherheit und Strafverfolgung zurück. Diese Gewalt könne langfristigen Folgen haben, darunter körperliche Verletzungen, ungewollte Schwangerschaften, Kontakt mit HIV oder anderen sexuell übertragbaren Infektionen, Fruchtbarkeitsprobleme, verinnerlichte Stigmatisierung, psychische Erkrankungen und Auswirkungen auf Kinder.
Den Studien zufolge reichte das Spektrum der Gewalttäter von Partnern und Familienmitgliedern bis hin zu religiösen Führern, Hilfskräften und Regierungsbeamten. "Extremereignisse selbst verursachen keine geschlechtsspezifische Gewalt, sondern verstärken die Triebkräfte der Gewalt oder schaffen Umgebungen, die diese Art von Verhalten ermöglichen", so van Daalen. Als Ursache sieht die Forschungsgruppe "systematische soziale und patriarchalische Strukturen, die solche Gewalt ermöglichen und normalisieren". Bestehende soziale Rollen und Normen, kombiniert mit Ungleichheiten, die zu Marginalisierung, Diskriminierung und Enteignung führen, machten Frauen, Mädchen und sexuelle und geschlechtsspezifische Minderheiten unverhältnismäßig anfällig für die negativen Auswirkungen von Extremereignissen.
Als Fallbeispiele dienten den Studienautorinnen und -autoren der Hurrikan "Katrina", der im August 2005 die Golfküste der Vereinigten Staaten heimsuchte, und die heftigen Überschwemmungen in Bangladesch in den Jahren 1998 und 2004. Als Folge von "Katrina" habe die geschlechtsspezifische Gewalt zugenommen, insbesondere zwischenmenschliche Gewalt und sexuelle Gewalt und Gewalt durch Intimpartner. Die schwule Community von New Orleans wurde für den Hurrikan "Katrina" verantwortlich gemacht, die Katastrophe sei als "Gottes Strafe" bezeichnet worden. In der Folge wurden gleichgeschlechtliche Paare daran gehindert, Hilfe von der Federal Emergency Management Agency zu erhalten, Transgender-Personen wurden in Notunterkünften bedroht und körperlich attackiert oder ihnen wurde der Zugang verweigert.
In Bangladesch zeigen Studien einen Anstieg von Frühverheiratungen in unmittelbarem Zusammenhang mit den Überschwemmungen. Diese Ehen würden als Möglichkeit angesehen, die Familienkosten zu senken und die Würde zu wahren. Gleichzeitig seien diese Ehen oft weniger teuer, da die durch Überschwemmungen verursachte Verarmung die Erwartungen senkt.
Flucht vor erwarteter Gewalt
Schon vorhandene Erfahrungen mit geschlechtsspezifischer Gewalt sei zudem geeignet, die Anfälligkeit weiter zu erhöhen. Angesichts der Wahrscheinlichkeit, in Hilfslagern Belästigung oder sexueller Gewalt ausgesetzt zu sein, entscheiden sich beispielsweise einige Frauen oder sexuelle und geschlechtsspezifische Minderheiten dafür, zu Hause zu bleiben oder in ihre Häuser zurückzukehren, noch bevor es sicher ist. Dies setze sie zusätzlichen Gefahren aus und verringere ihren bereits eingeschränkten Zugang zu Hilfsressourcen weiter.
Die Forschenden schlussfolgern aus ihren Ergebnissen, dass sich das Katastrophenmanagement auf die Prävention, Minderung und Anpassung an Ursachen geschlechtsspezifischer Gewalt konzentrieren müsse. Dies sei beispielsweise durch die Bereitstellung von Notunterkünften und Hilfsdiensten - einschließlich Toiletten und Badebereichen - möglich, die ausschließlich für Frauen, Mädchen und sexuelle und geschlechtsspezifische Minderheiten zugänglich sind.
Auch die Bereitstellung von Notfallteams, die speziell in der Prävention von geschlechtsspezifischer Gewalt geschult sind, könnte ein Ansatz sein, ebenso wie Empowerment-Initiativen für Frauen und sexuelle und geschlechtsspezifische Minderheiten, die Frauen als Entscheidungsträgerinnen in lokalen Gemeinschaften stärken.
Quelle: ntv.de