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Versprechen nach Alarm-Studie Konnte Deutschland das dramatische Insektensterben stoppen?

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In ihrem Koalitionsvertrag vereinbarten SPD und Union 2018, das Insektensterben "umfassend" zu bekämpfen.

In ihrem Koalitionsvertrag vereinbarten SPD und Union 2018, das Insektensterben "umfassend" zu bekämpfen.

(Foto: picture alliance / Zoonar)

Innerhalb von 30 Jahren ist die Masse an Insekten in Deutschland um 75 Prozent geschrumpft. Dieses Forschungsergebnis löst 2017 einen weltweiten Aufschrei aus. Seitdem hat sich viel getan. Besser geht es den Sechsbeinern hierzulande trotzdem nicht - im Gegenteil.

Der Krefelder Alarm ging um die ganze Welt. Als Forscher der nordrhein-westfälischen Stadt 2017 veröffentlichten, wie weit das Insektensterben hierzulande bereits fortgeschritten ist, berichtete sogar die "New York Times". Von kaum weniger als einem "Insekten-Armageddon" in Deutschland war damals die Rede. Was überspitzt klingt, war dem Befund der Krefelder durchaus angemessen, denn: Die Masse der Insekten hierzulande ist innerhalb von 30 Jahren um 75 Prozent geschrumpft.

Das Studienergebnis der Entomologen sorgte nicht nur für einen breiten Aufschrei, sondern löste auch einen enormen Tatendrang aus. In ihrem 2018 geschlossenen Koalitionsvertrag versprachen sich SPD und Union etwa "das Insektensterben umfassend zu bekämpfen". Manch einer mag sich auch noch an Schlagzeilen wie "Bienenkönig Markus Söder" erinnern. Mittlerweile dürfte der bayerische Ministerpräsident diesen Titel - trotz kurzzeitigem Krafteinsatz für die Sechsbeiner - längst wieder los sein. Auch der Aufschrei über die schwindende Insektenwelt ist weitgehend abgeebbt, um die Themen Arten- und Naturschutz ist es deutlich stiller geworden. Was aber hat sich getan? Ist es Deutschland gelungen, das dramatische Insektensterben aufzuhalten?

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(Foto: RTL)

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"Es hat sich schon extrem viel getan, vor allem in zwei Bereichen", sagt Christoph Scherber im Gespräch mit ntv.de. Bevor der Leiter des Zentrums für Biodiversitätsmonitoring des Leibniz-Instituts zum großen "Aber" ansetzt, weist er auf die verstärkte Forschungsförderung und das 2022 in Kraft getretene Insektenschutzgesetz hin. Die GroKo hatte das Gesetz auf den letzten Metern ihrer Amtszeit auf den Weg gebracht, 2022 trat es in Kraft. Im Fokus steht dabei vor allem die Ausdehnung von Schutzgebieten, aber auch das Verbot von Pflanzenschutzmitteln in diesen Regionen. Zudem legte das Gesetz den Grundstein im Kampf gegen Insektensterben durch Lichtverschmutzung.

Umfassende Bekenntnisse

"Und durch umfassende Förderprogramme konnten endlich wichtige Forschungen angestoßen werden", ergänzt Scherber. Das Zentrum für Biodiversitätsmonitoring beschäftige sich etwa mit Alternativen zum Pflanzenschutz in der Landwirtschaft. In den kommenden Monaten sei mit Ergebnissen zu rechnen, "die die öffentliche Debatte dann wieder voranbringen werden".

Der Durchbruch - zumindest, was Bekenntnisse zum Artenschutz angeht - gelang der Welt schließlich Ende 2022 in Montreal: Auf der UN-Biodiversitätskonferenz einigten sich die Staaten auf das größte Naturschutzabkommen aller Zeiten. Bis 2030 sollen mindestens 30 Prozent der Land- und Wasserflächen unter Schutz gestellt werden - eine essenzielle Maßnahme, um den Verlust von Arten und Ökosystemen zu stoppen. Zudem verpflichteten sich die Industriestaaten, ärmeren Ländern des Globalen Südens mindestens 20 Milliarden Dollar für die Finanzierung des Naturschutzes zu zahlen.

Im vergangenen Juni zog die EU nach. Mit dem EU-Renaturierungsgesetz wurde erstmals verbindlich beschlossen, geschädigte Ökosysteme wiederherzustellen. Bis 2030 müssen die Mitgliedstaaten mindestens 30 Prozent der geschädigten Flächen an Land und im Wasser wiederherstellen. Wie genau sie das tun, bleibt ihnen überlassen. Möglich ist etwa, Moore wieder zu "vernässen", Bäume in Städten zu pflanzen oder Flüsse wieder in ihren natürlichen Zustand zu versetzen.

"Artenschutz ist wichtiger als Klimaschutz"

Die Bekenntnisse zeigen: Die Welt ist sich der prekären Lage, die das Artensterben mit sich bringt, durchaus bewusst. Denn gelänge es der Welt nicht, den bedrohlichen Trend zu stoppen, wären die Auswirkungen fatal. "Im Prinzip ist der Schutz der Artenvielfalt viel wichtiger als der Klimaschutz", erklärt der Wissenschaftsjournalist Dirk Steffens im Gespräch mit ntv.de. "Denn die Klimakrise stellt infrage, wie wir leben - aber das Artensterben, ob wir leben."

So könne die Menschheit zwar ohne einen einzigen Gletscher auf der Erde existieren, ohne Artenvielfalt allerdings nicht. "Die Luft, die wir atmen, wird von Photosynthese betreibenden Lebewesen produziert. Das Wasser, das wir trinken, wird von Mikroorganismen gereinigt. Von diesen hängt außerdem die Nahrung ab, die wir essen", fasst Steffens zusammen. Damit nimmt die Warnung des Weltbiodiversitätsrats gewaltige Ausmaße an. Dieser sieht bis Ende des Jahrhunderts rund eine Million Arten vom Aussterben bedroht. "Und wenn das so kommt", mahnt Steffens, "muss man damit rechnen, dass auch wir Menschen aussterben."

Klar wird: Ein funktionierendes Ökosystem kann es ohne Artenvielfalt nicht geben. Den Insekten kommt dabei eine essenzielle Rolle zu, stehen sie doch am unteren Ende der Nahrungskette. Ihr Wegfall wäre damit fatal für alle Lebewesen, die danach kommen, wie Vögel oder Amphibien. Ganz abgesehen von der mageren Lebensmittelauswahl, die den Menschen noch bliebe, wenn es keine Insekten gäbe, die Pflanzen bestäuben.

Zustand "alarmierend"

Nun sind Bekenntnisse das eine, die Umsetzung von Maßnahmen jedoch das andere. An dieser Stelle kommt das "Aber" von Biodiversitätsforscher Scherber ins Spiel: "Es wurde einiges getan, aber es muss noch deutlich mehr passieren." Der Zustand der Artenvielfalt bei Insekten in Deutschland sei "nach wie vor alarmierend". Der Experte wird deutlich: "Es gibt keine Hinweise, dass sich die Lage verbessert oder auch nur erholt hat. Im Gegenteil: Die Roten Listen zeigen, dass wir immer mehr gefährdete Arten haben."

Zu einem ähnlichen Ergebnis kam das großangelegte Forschungsprojekt DINA (Diversität von Insekten in Naturschutz-Arealen) im vergangenen Mai. Demnach schreitet das deutschlandweite Insektensterben nicht nur auf Feldern oder Ackerböden weiter voran, sondern auch in Naturschutzgebieten. Die Autorinnen und Autoren betonten: Das Gesamtgewicht der Insekten, das in direkter Beziehung mit dem Artenreichtum stehe, hat sich seit den Krefelder Ergebnissen in keiner Weise erholt.

Scherber wundert das kaum. So wurde ein Grundstein für die heutige prekäre Lage schon vor langer Zeit gelegt - und bisher kaum angetastet: die Landschaftsplanung. "Da ist einfach vieles den Bach runtergegangen", sagt Scherber. Ein Beispiel seien die Flurbereinigungsmaßnahmen aus den 1970er-Jahren. Um die Produktions- und Arbeitsbedingungen in der Land- und Forstwirtschaft zu verbessern, wurden kleine Felder zusammengelegt und Unebenheiten, Hecken oder Gehölze entfernt. Gleichzeitig wurde die Landwirtschaft immer weiter intensiviert, die Länder insgesamt stärker beansprucht. "So sind die Lebensadern für Insekten mit der Zeit verschwunden." Und irgendwann, so der Experte, "war einfach nichts mehr da, wo insbesondere seltenere Arten ihren Lebensraum finden konnten".

Verantwortung bei den Kommunen

Bekannt ist diese dramatische Entwicklung auch nicht erst, seitdem die Krefelder Forscher konkrete Daten vorlegten. "Seit den 1970er-Jahren hat es etliche Studien gegeben, die zeigen, dass es mit der Artenvielfalt bergab geht", sagt Scherber. "Die Krefeld-Studie ist da nur die Spitze des Eisbergs." Das immense Artensterben habe zwar ganz verschiedene Ursachen. Scherber weist auf das veränderte Klima, Lichtverschmutzung, den Pestizideinsatz und eine Stickstoffüberlastung in der Landwirtschaft hin. "Der größte Hebel liegt allerdings immer noch in der Landnutzung."

Damit werden die bisherigen Maßnahmen "auch sicherlich nicht der große Wurf sein", fährt der Forscher fort. Vielmehr müsse die Landschaft wieder strukturreicher gemacht werden. Damit müssten vor allem die lokalen Planungsbehörden in den Kommunen aktiv werden. Sie müssten ermitteln, welche Landstücke nicht den Landwirten, sondern der Gemeinde gehören und diese schließlich neu beplanen. "Zum Beispiel müssten überall dort, wo Flurstücke oder Hecken weggenommen wurden, wieder Randstreifen, Grenzflächen oder Hecken in die Landschaft gebracht werden." Denn wenn Agrarflächen oder Wälder direkt bis an den Asphalt der Straßen oder an Gewässer gehen, fehle der für viele Insekten essenzielle Übergangslebensraum. Am Ende komme es im Kampf gegen das Artensterben damit vor allem auf die Gemeindeebene an.

Auch der Klimaforscher Hans-Otto Pörtner pocht auf eine verbesserte Raumplanung. "Ausgleichsmaßnahmen, die eins zu eins die Schäden ausgleichen, reichen nicht mehr aus, wenn wir die Klima- und Artenkrise beenden wollen", sagte er der "Zeit". Allerdings liege da auch das Problem: Den Kommunen fehle oft das Verständnis dafür, wie wichtig der Artenschutz sei. Kurzfristige Wirtschaftsinteressen würden oft höher gewichtet.

Der Schritt zurück

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Ob in der Kommune, auf Bundes- oder EU-Ebene: Von notwendigen Maßnahmen wie diesen scheint Deutschland derzeit so weit entfernt wie lange nicht. Immer wieder rutschen Natur- und Artenschutz auf der politischen Agenda zurück. Als Reaktion auf die europaweiten Bauernproteste lockerten die EU-Agrarminister Ende März etwa Umweltauflagen in der Gemeinsamen EU-Agrarpolitik. Zuvor hatte das Europäische Parlament gegen einen Gesetzentwurf gestimmt, der den Einsatz von Pestiziden in der Landwirtschaft hätte reduzieren sollen. Das EU-Renaturierungsgesetz wurde zwar beschlossen, nach Kritik von den Christdemokraten und Bauernverbänden allerdings in einer deutlich abgeschwächteren Form als zunächst geplant. Schließlich gibt es auf Bundesebene bisher noch keine konkreten Umsetzungspläne für das Montreal-Abkommen.

Scherbers Hoffnung im Kampf gegen das Artensterben liegt daher weniger auf den Regierungen. "Ich glaube, dass wir nicht auf die Politik warten sollten", sagt er. Vielmehr könne jeder Einzelne etwas bewirken, möglicherweise durch Einfluss an seinem Arbeitsplatz oder auch nur im eigenen Garten, sagt der Experte. "Der Anstoß muss nun aus der Gesellschaft kommen, dann bewegt sich am Ende auch die Politik." Denn klar ist: Der breite Aufschrei um die Krefelder Studie mag ein Ende gefunden haben - das Artensterben der Insekten in Deutschland jedoch nicht.

Quelle: ntv.de

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