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Traum von der Normalität Wann wird die Herdenimmunität erreicht?

Die Herdenimmunität gegen Sars-CoV-2 soll eine Kontrolle des Virus ermöglichen - und das ganz ohne weitere Corona-Maßnahmen.

Die Herdenimmunität gegen Sars-CoV-2 soll eine Kontrolle des Virus ermöglichen - und das ganz ohne weitere Corona-Maßnahmen.

(Foto: imago stock&people)

Wann ist der Albtraum Corona-Pandemie endlich vorbei? Die Menschen in Deutschland und der ganzen Welt sehnen sich nach einer Rückkehr zur Normalität. Der derzeit einzig mögliche Weg dahin scheint die Herdenimmunität zu sein. Eine massive Impfkampagne soll breite Teile der Bevölkerung gegen Sars-CoV-2 immun machen. Aber wann wird das Ziel in Deutschland erreicht sein?

Die Herdenimmunität ist deshalb der erhoffte Schlüssel zum Erfolg, weil sie dem Erreger keine Chance mehr gibt, sich massenhaft auszubreiten. Denn ein Infizierter trifft dann im Schnitt einfach nicht mehr auf genug für das Virus empfängliche Menschen. Die mittlerweile berühmte effektive Ansteckungsrate (R-Wert) sinkt dann dauerhaft unter den Wert von eins, was bedeutet, dass jeder Infizierte im Schnitt weniger als einen weiteren Menschen ansteckt - und das ganz ohne Lockdown und Maskenpflicht. Die Inzidenz sinkt schließlich immer weiter in Richtung null, die Pandemie ist vorbei.

Die Voraussetzung dafür: Ein gewisser Anteil der Bevölkerung muss immun gegen das Virus sein. Dies kann durch eine natürliche Infektion oder durch Impfung geschehen. Wie groß dieser Anteil sein muss, darauf hat die Basisreproduktionszahl (R0) eines Erregers Einfluss. Sie gibt an, wie viele andere Menschen ein Infizierter anstecken würde, wenn das Virus sich ungehindert ausbreiten könnte. Bei Sars-CoV-2 nimmt man eine Basisreproduktionszahl von etwa drei an. Daraus lässt sich errechnen, dass 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung geimpft sein müssten.

Varianten verhageln Rechnung

Doch bereits hierbei ergeben sich die ersten Schwierigkeiten. Denn mittlerweile gibt es eine Vielzahl neuer Varianten von Sars-CoV-2, die sehr wahrscheinlich ansteckender sind und eine größere Basisreproduktionszahl haben. Sollte etwa B.1.1.7 die Oberhand gewinnen, glauben Experten, dass 80 bis 85 Prozent der Bevölkerung immun sein müssten, um die Herdenimmunität zu erreichen.

Aber auch die Wirksamkeit von Impfstoffen hat einen Einfluss: Laut einer Studie würde ein zu 80 Prozent wirksamer Impfstoff den notwendigerweise immunen Bevölkerungsanteil auf 75 bis 90 Prozent erhöhen. Die Vakzinen von Biontech/Pfizer und Moderna haben zwar eine Wirksamkeit von über 90 Prozent, der Astrazeneca-Impfstoff jedoch nur von maximal 82 Prozent.

Der online verfügbare Herdenimmunität-Rechner des Nachrichtenportals Bloomberg legt einen Wert von 75 Prozent an geimpfter Bevölkerung zugrunde - und stützt sich damit auf eine Einschätzung des US-Immunologen Anthony Fauci. Mit dem Online-Tool lässt sich für jedes Land auf der Welt der Zeitpunkt errechnen, zu dem die Herdenimmunität erreicht werden müsste - und zwar auf Grundlage des aktuellen Impffortschritts. Das Ergebnis für Deutschland: In zwei Jahre und dreieinhalb Monate könnte es soweit sein, also Ende März 2023. Das klingt zunächst ernüchternd.

Doch der Bloomberg-Rechner lässt den Anteil der Covid-19-Genesenen außer acht, die durch eine natürliche Infektion Immunität erworben haben. Ein anderer Online-Rechner - pandemieende.de - hingegen berücksichtigt die bisher rund 2,2 Millionen Genesenen in Deutschland, was in etwa 2,7 Prozent der Bevölkerung entspricht. Doch selbst mit diesen wird eine Immunität von 70 Prozent (die dieser Rechner ansetzt) erst im Februar 2023 erreicht. Allerdings dürfte dies ebenfalls zu pessimistisch sein.

Experten gehen davon aus, dass die tatsächliche Zahl Genesener höher ist als bekannt - Stichwort Dunkelziffer. Der Epidemiologe Rafael Mikolajczyk von der Uniklinik Halle nimmt an, dass bisher weniger als 10 Prozent der Bevölkerung Corona gehabt haben. Wie hoch die Dunkelziffer in Deutschland wirklich ist, wird derzeit noch erforscht. Eine lokale Antikörper-Studie des RKI im schwer betroffenen Berlin-Mitte hatte bereits gezeigt, dass dort mehr als doppelt so viele Menschen erkrankt waren wie bekannt - insgesamt 4,4 Prozent. Das zeigt aber auch: Entscheidend wird die Dunkelziffer nicht zum zügigen Erreichen des 70-plus-Prozent-Ziels beitragen.

Ein weiterer Online-Rechner der Nachrichtenagentur Reuters berücksichtigt einen Faktor, den die anderen außen vor lassen: Bei ihm kann auch der Fortschritt der Impfkampagne eingestellt werden. Statt das aktuelle Impftempo für die Zukunft vorauszusetzen, kann etwa eine massive Steigerung der verabreichten Impfdosen (allerdings bisher nur für die USA) veranschlagt werden, was die Zeit bis zur Herdenimmunität entsprechend verkürzt. Damit liegt dieser Online-Rechner wohl am nächsten an der Realität.

Bald könnte genug Impfstoff da sein

Denn während Impfstoff bisher Mangelware war, wird sich laut Daten des Bundesgesundheitsministeriums die Zahl der gelieferten Impfstoffdosen bald drastisch vergrößern: Im zweiten Quartal des Jahres werden demnach über 60 Millionen Dosen erwartet - und das beinhaltet nur die bereits zugelassenen drei Impfstoffe von Biontech/Pfizer, Moderna und Astrazeneca. Ein weiterer Impfstoff, von der Firma Johnson & Johnson, könnte schon im März ebenfalls eine Zulassung erhalten, was zusätzliche 10 Millionen Dosen bedeutet, von denen auch nur eine einzige für eine volle Immunisierung ausreicht. Spätestens im dritten Quartal sollen laut den Plänen so viele Impfdosen geliefert worden sein, dass die gesamte deutsche Bevölkerung geimpft werden kann.

Kanzlerin Angela Merkel hatte es versprochen: Bis Ende des Sommers sollen alle Menschen in Deutschland ein "Impfangebot" erhalten. Doch auch bei diesen Zahlen gibt es Unsicherheiten. Denn erstmal handelt es sich um reine Bestellungen - es kann bei der Auslieferung immer noch etwas schiefgehen. Technische Schwierigkeiten bei den Herstellern etwa könnten die Produktion verzögern. Auch ob die Logistik reibungslos ablaufen wird, ist alles andere als sicher. Schließlich handelt es sich laut Bundesgesundheitsminister Jens Spahn um die "größte Impfkampagne in der Geschichte Deutschlands". Hinzu kommen im Fall von Astrazeneca die Vorbehalte in der Bevölkerung, weshalb bisher viele Impfdosen ungenutzt blieben.

Ein weiterer Unsicherheitsfaktor sind die Kinder. Denn die bisherigen Impfstoffe sind nur für Erwachsene zugelassen, der von Biontech/Pfizer immerhin schon ab 16 Jahren. Rund 12 Millionen Menschen in Deutschland sind jedoch jünger als 16 Jahre. Um eine Herdenimmunität zu erreichen, müssten sich also fast 90 Prozent der 71 Millionen übrigen Menschen impfen lassen. Laut einer RKI-Erhebung liegt die Impfbereitschaft von Erwachsenen jedoch nur bei rund 67 Prozent. Doch mittlerweile werden Corona-Impfstoffe auch an Kindern getestet. Virologe Christian Drosten rechnet damit, dass diese im Herbst für Kinder zugelassen werden könnten, wie er im Corona-Podcast des NDR sagte.

Effekt schon früher spürbar?

Doch womöglich muss sich Deutschland am Ende gar nicht so lange gedulden, bis die Massenimpfungen schon eine Wirkung zeigen. Denn bereits im Zusammenwirken mit milden Corona-Maßnahmen könnte die zunehmende Immunität schon früher den R-Wert dauerhaft unter eins halten und damit die Inzidenz massiv senken, wie Drosten in derselben Podcast-Folge sagte. Seine Hoffnung: Gegen Ende des zweiten Quartals könnte es in Deutschland schon so etwas wie eine "effiziente Bevölkerungsimmunität" geben. Allerdings wird nur eine echte Herdenimmunität am Ende alle übrigen Maßnahmen überflüssig machen.

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Doch selbst dann dürfte Sars-CoV-2 noch lange nicht besiegt sein. "Die Herdenimmunität war auch bei vorangegangen Epidemien von Grippe, Masern und saisonalen Coronaviren erreicht worden. Aber sie wurde anschließend wieder verloren", mahnte der Mathematiker und Epidemiologe Adam Kucharski vergangenen Herbst auf Twitter. Dafür nennt er mehrere Gründe: Zum einen werden neue Kinder geboren, die anfällig für Sars-CoV-2 sind, da sie keine angeborene Immunität besitzen. Zudem ist immer noch unklar, wie lange eine durch Impfung oder Ansteckung erworbene Immunität gegen das Coronavirus anhält.

Kucharski nennt zudem einen Punkt, der derzeit am augenscheinlichsten ist: Das Coronavirus entwickelt sich weiter, es mutiert, um seine Haut zu retten. Von einigen neuen Varianten wie jenen in Südafrika, Brasilien oder zuletzt in New York entdeckten, nimmt man an, dass sie durch "Escape Mutations" (Deutsch: Flucht-Mutationen) der Immunantwort Geimpfter besser standhalten können. Forscher weisen daher bereits auf ein anderes mögliches Szenario hin: Wie für die Grippe könnte es jährlich einen neuen Impfstoff gegen Covid-19 geben. Bereits jetzt arbeiten die großen Hersteller an Impfstoffen, die auch gegen neue Corona-Varianten wirksam sein sollen.

Quelle: ntv.de

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