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Fällt Einschränkung für Waffen? "Biden muss aufhören, der Ukraine die Hände zu binden"

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Der US-Raketenwerfer HIMARS kann Ziele in 77 Kilometern Entfernung treffen - wenn man ihn  denn lässt.

Der US-Raketenwerfer HIMARS kann Ziele in 77 Kilometern Entfernung treffen - wenn man ihn denn lässt.

(Foto: REUTERS)

Die Kampfkraft der Ukraine leidet auch, weil der Westen vorgibt, dass seine Waffen nicht auf russischem Boden wirken dürfen. Doch in den USA bröckelt diese Position. Ein Ende des Verbots könnte der ukrainischen Verteidigungsfähigkeit Schub geben.

Ob die Kampfmoral der unter Druck stehenden ukrainischen Truppen zu heben ist, wenn US-Außenminister Antony Blinken bei seinem Besuch in Kiew zur Gitarre greift? Fraglich. Doch der Amerikaner stellt sich inzwischen in einer womöglich überlebenswichtigen Frage an die Seite Kiews und könnte damit tatsächlich auch an der Front bald einen Unterschied machen.

Laut Bericht der "New York Times" hat Blinken im Anschluss an seine Ukraine-Reise im Weißen Haus eine interne Debatte angestoßen: Ihm geht es darum, die Bedingung abzuschaffen, dass die Ukraine westliche Waffen nur auf oder über eigenem Grund und Boden einsetzen darf. Diese Bedingung verknüpften die westlichen Unterstützer vom ersten Tag an mit ihren Lieferungen. Dabei war es egal, um was es ging: Schützenpanzer, Fliegerabwehr oder F16-Kampfjets.

Das ist eine Bedingung, die vom Völkerrecht nicht gedeckt und nicht verlangt wird. Internationales Recht gesteht dem angegriffenen Land einen Anspruch auf Selbstverteidigung zu. Ob die mit Gegenangriffen auf eigenem oder auf Feindesland erfolgt, ist unerheblich. Entsprechend willkürlich erschien die westliche Bedingung der Fachwelt von Anfang an.

Als "militärisch völlig sinnlos" etwa bewertet der Sicherheitsexperte Nico Lange die Beschränkung für den Gebrauch westlicher Waffen. "In einem Krieg müssen militärische Ziele angegriffen werden. Wenn man zum Beispiel von russischem Gebiet aus mit Flugzeugen angegriffen wird, ist es natürlich das beste Mittel, die Luftwaffenbasen anzugreifen, von denen aus die Jets starten." Was für Kampfjets gilt, das gilt ebenso für Artilleriegeschosse oder Marschflugkörper: Erheblich effektiver als eine Waffe in Aktion abzuwehren, ist es, das System und die Logistik dahinter lahmzulegen. Preiswerter ist es ebenso, da sich mit einem erfolgreichen Schlag - etwa gegen einen Raketenwerfer - die Nutzung vieler Raketen verhindern lässt.

"Gezwungen, mit einer Hand auf dem Rücken zu kämpfen"

Wie sehr die Beschränkung auf eigenes Territorium die ukrainischen Truppen in der Nutzung westlicher Waffen behindert, macht der Politologe Carlo Masala seit Monaten deutlich: "Wir zwingen die Ukraine, mit einer Hand hinter dem Rücken zu kämpfen", fasst er es zusammen. Die USA stellen der Ukraine unter anderem Raketen mit Reichweiten von 77 Kilometern (HIMARS) zur Verfügung, sowie solche, die 170 oder 300 Kilometer weit fliegen (ATACMS). Doch mit der Reichweiten-Beschränkung bleiben die Waffen in der Anwendung weit hinter ihren Fähigkeiten zurück.

Über die Gründe für diese Politik kann nur spekuliert werden, konkrete Aussagen machen die Unterstützerstaaten nicht. Ein Motiv könnte sein, Sorgen im eigenen Land vor einer Beteiligung der NATO entgegenzuwirken. Auch wenn sich diese Frage nicht an Angriffen auf russisches Territorium entscheidet. Es reicht womöglich die Sorge, der russische Präsident Wladimir Putin könnte es so empfinden. Ebenso werden wohl immer wieder Befürchtungen geäußert, eine Niederlage Russlands könnte Putin politisch so schwer beschädigen, dass er die Macht verliert und das Land ins Chaos stürzt. In ein Chaos, das auch dem Westen gefährlich werden könnte. Der Aufstandsversuch des inzwischen verstorbenen Jewgeni Prigoschin, Chef der Söldnergruppe Wagner, im vergangenen Jahr soll in westlichen Regierungen für Unruhe gesorgt haben.

Wissenschaftler Lange hält keine dieser Überlegungen für stichhaltig, da die Erfahrung der vergangenen zwei Jahre anderes lehrt: "Das Hauptquartier der Schwarzmeerflotte ist bombardiert worden, Schiffe sind versenkt worden, mit eigenen Waffen greift die Ukraine ständig Ziele auf russischem Gebiet an. Die befürchteten schlimmen Folgen sind aber nie eingetreten", bilanziert Lange, und verlangt: "Dinge, die man vor zwei Jahren für richtig hielt, muss man auch überprüfen." Darüber hinaus warnt der Sicherheitsexperte davor, den westlichen Einfluss auf das Geschehen in Russland zu überschätzen. "Wer glaubt, dass Putin mindestens ein Stück Ukraine kriegen muss, damit Russland nicht zerfällt, sitzt russischer Propaganda auf."

Diese Erkenntnis scheint sich nun in Washingtons Politikbetrieb in einigen Köpfen durchzusetzen - allerdings, so muss man befürchten, aus dramatischem Anlass: Mit ihrer jüngsten Offensive in Richtung der Großstadt Charkiw im Nordosten der Ukraine waren die russischen Truppen unter anderem so erfolgreich, weil die Region direkt an der russischen Grenze liegt. Entsprechend konnten sich die Brigaden auf russischem Boden sammeln, ohne dass die Ukraine in der Lage war, mit amerikanischen HIMARS-Raketen die Truppenaufstellung zu verhindern. Sie darf ja keine US-Munition auf russischen Boden schießen.

Durch die erfolgreichen russischen Angriffe nahe der Grenze scheint einigen, die in westlichen Regierungen Einfluss haben, klar geworden zu sein: Die seit über zwei Jahren geltende Bedingung wirkt sich auf dem Schlachtfeld fatal aus. Zwar geht die ukrainische Armee schon seit langem und auch erfolgreich mit eigenen Drohnen auf russischem Gebiet gegen die Infrastruktur des Feindes vor, aber die Kampfkraft der gelieferten US-Waffen lässt sich damit nicht entwickeln. Und die eigene Drohnenproduktion kann den Bedarf auch schlicht nicht decken.

"Manche Entscheider schauen erstmals wirklich hin"

"Offenbar hat man sich die Folgen der Beschränkung über lange Zeit nur abstrakt vorgestellt", sagt Lange. "Nun schauen manche Entscheidungsträger zum ersten Mal wirklich hin und stellen fest: Militärisch gesehen ist es verrückt, erst zu warten, bis die Gegner über die Grenze kommen. Die muss man doch vorher bekämpfen können."

Für Außenminister Blinken muss diese Erkenntnis bei seinem Ukraine-Besuch vergangene Woche besonders ernüchternd gewesen sein. Zumindest arbeitet er jetzt mit Politikerinnen und Politikern aus Bidens engerem Kreis an einer Lockerung des US-Verbots. Ziel soll sein, den Ukrainern zu erlauben, russische Raketen- und Artilleriesysteme auch hinter der Grenze anzugreifen. Weiter entfernt gelegene Ölraffinerien könnten hingegen noch immer Teil der Restriktionen bleiben.

Unterstützung gibt es für Blinkens Initiative unter anderem auch aus den Reihen der Republikaner. Mit dem Verbot habe "die Regierung Biden dem Putin-Regime einen Zufluchtsort verschafft, von dem aus es nach Belieben Ukrainer töten kann", sagte der republikanische Abgeordnete Michael McCaul. "Präsident Biden muss aufhören, der Ukraine die Hände zu binden und diese Politik sofort rückgängig machen."

Das renommierte Institute for the Study of War (ISW) analysiert, die Politik der USA habe "einen riesigen Schutzraum geschaffen, in dem Russland seine Bodentruppen für die Invasion aufstellen konnte und von dem aus es Gleitbomben und andere Langstreckenraketen zur Unterstützung seiner erneuten Invasion einsetzt". Das ISW folgert: "Sie sollte unverzüglich geändert werden."

Orientieren könnte sich das Weiße Haus bei seiner Entscheidungsfindung an den britischen Partnern. Die haben ihre Beschränkungen, etwa für den wirkstarken Marschflugkörper Storm Shadow schon vor einer Weile aufgehoben - ohne viel Aufhebens darum zu machen. Außenminister David Cameron betonte bei seinem Ukraine-Besuch vor kurzem, Kiew habe "absolut das Recht, gegen Russland zurückzuschlagen".

Politologe Lange plädiert dafür, eine Diskussion dieser Art überhaupt nicht mehr zu führen. "Wir liefern der Ukraine Waffen und Munition, damit sie ihren Verteidigungskampf führen kann, den wir auf Grundlage des Völkerrechts unterstützen. Wie und wo die Armee das Gelieferte einsetzt, ist Sache der Ukraine - fertig." Eine solche Haltung der westlichen Unterstützer würde die Ukrainer binnen Stunden befähigen, wohl immer noch mit knapper Bewaffnung, aber "mit beiden Händen vorn" zu kämpfen.

Quelle: ntv.de

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