Politik

NATO-Expertin zu Kriegsfolgen "Wir müssen uns auf einen langen Konflikt mit Russland einstellen"

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Die Ukraine rasch in die NATO aufzunehmen, hält Stefanie Babst für den richtigen Schritt.

Die Ukraine rasch in die NATO aufzunehmen, hält Stefanie Babst für den richtigen Schritt.

(Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com)

Viel zu langsam und zögerlich unterstützt die EU in den Augen vieler die Ukraine in dem seit zwei Jahren andauernden Krieg. Dass Russland künftig auch für uns eine Gefahr werden könne, sei in Deutschland noch immer nicht richtig angekommen, sagt NATO-Expertin Stefanie Babst im Interview mit ntv.de. Die defensive Haltung gegenüber Moskau biete "Putin eine Steilvorlage". Ziel müsse sein, "das mörderische Regime in Russland in seinen Handlungsmöglichkeiten zu reduzieren, mit allem, was wir haben".

ntv.de.: Frau Babst, als der Angriffskrieg gegen die Ukraine vor zwei Jahren losging, hatten Sie nur wenige Tage zuvor in Ihrer Funktion als Gutachterin im Bundestag eindringlich vor einem Krieg in Europa gewarnt. Was wussten Sie zu diesem Zeitpunkt, was andere nicht wussten?

Dr. Stefanie Babst ist Politologin und ehemalige leitende Mitarbeiterin des Internationalen Stabs der NATO. Von 2006 bis 2020 war Babst stellvertretende beigeordnete Generalsekretärin der Public Diplomacy Division und damit die ranghöchste Deutsche im NATO-Generalsekretariat.

Dr. Stefanie Babst ist Politologin und ehemalige leitende Mitarbeiterin des Internationalen Stabs der NATO. Von 2006 bis 2020 war Babst stellvertretende beigeordnete Generalsekretärin der Public Diplomacy Division und damit die ranghöchste Deutsche im NATO-Generalsekretariat.

(Foto: Privat)

Stefanie Babst: Ich hatte zwar keinen direkten Zugang mehr zu geheimdienstlichen NATO-Quellen, aber ich war sowohl in Gesprächen mit meinen ehemaligen Kollegen in Brüssel als auch mit diversen Vertretern aus NATO-Hauptstädten und ehemaligen Kollegen in Moskau. Außerdem gab und gibt es viele detaillierte öffentliche Quellen. Deshalb konnte ich mir seit dem Spätherbst ein relativ gutes Lagebild machen. Die Amerikaner hatten einen Teil ihrer Warnungen auch öffentlich gemacht, und somit war bereits im Oktober und November sehr deutlich: Hier braut sich etwas zusammen. Ich habe das Putinsche System über zwanzig Jahre eng verfolgt und kann es gut einschätzen. Um eins und eins zusammenzuzählen, brauchte es nicht allzu viel Fantasie.

Der Überfall hat Sie nicht überrascht?

Nein. Es gab erstens eine sehr konkrete politische Absichtserklärung aus Moskau und zweitens folgte sie einem Muster. Vor allem mit Blick auf frühere militärische Interventionen, die Russland unternommen hat. Drittens hat die russische Seite die politische Lage im Westen seit dem Rückzug aus Afghanistan wohl so eingeschätzt, dass unsere Regierungen keinen direkten Konflikt mit dem Kreml eingehen würden. Gleichzeitig hat sich Putin der Rückendeckung durch China und anderer autoritärer Freunde vergewissert. Diese Lage hat sich grundsätzlich bis heute nicht geändert. Die Abgeordneten habe ich davor eindringlich gewarnt.

Warum hat Sie trotzdem niemand so richtig ernst genommen?

Zum einen passt es nicht zu dem weit verbreiteten Russlandbild in Deutschland, das man viele Jahre lang schöngeredet hat. Zum anderen blenden viele politische Entscheidungsträger gerne Dinge aus, die unangenehm sind. Die sogenannten "Blind Spots" gegenüber Russland, also die blinden Flecken, waren und sind in unserem Land sehr ausgeprägt. Und schließlich: Etliche der politischen Akteure, die vor zwei Jahren vor mir saßen, sind auch mitverantwortlich für das jetzige Drama. An Nord Stream 2 hat die Regierung noch festgehalten, als Russlands Truppen schon an der ukrainischen Grenze standen. Als Bundeskanzler Scholz nach Moskau reiste, war bereits klar, was passieren würde. Zu diesem Zeitpunkt hatte Putin seine Entscheidung, die Ukraine zu überfallen, längst gefällt. Aber weder im Bundestag noch in der Regierung hatte man einen Plan, wie man darauf reagieren sollte.

Hat sich daran in den vergangenen zwei Jahren etwas geändert?

Zum Teil, aber für meinen Geschmack viel zu langsam und zögerlich. Nehmen wir das Thema Bundeswehr. Die Ampelregierung hat zwar ein Sondervermögen auf den Weg gebracht, um für die Modernisierung unserer Streitkräfte mehr Geld zur Verfügung zu haben, und auch die eine oder andere bundeswehrinterne Reform ist verabschiedet worden. Aber die Finanzierung der Streitkräfte steht immer noch auf sehr wackeligen Füßen. Personal- und Betriebskosten fressen immer noch den größten Teil des Budgets auf. Wichtige Reformen wie im Beschaffungswesen bleiben nach wie vor aus. Wir haben weiter ein großes Personalproblem und zu wenig effektive militärische Fähigkeiten. Auch außenpolitisch haben wir immer noch keine langfristige Strategie gegenüber Russland. Trotz aller Zeitenwende-Rhetorik hält die Regierung an ihrer Eskalationsvermeidungspolitik fest. In der NATO blockiert sie jeden kleinsten Schritt, der zu einer Aufnahme der Ukraine führen könnte, und hält weiter an der NATO-Russland-Grundakte fest, die Moskau bereits vor zwei Jahren in die Tonne getreten hat. Auch das gerade unterzeichnete Sicherheitsabkommen mit der Ukraine enthält viele vage Absichtserklärungen. Also nein: Ich habe nicht den Eindruck, dass die Ernsthaftigkeit, die strategische Bedeutung in allen Facetten erkannt worden ist.

Wie schätzen Sie die Chancen der Ukraine ein, mit dem Westen im Rücken, Russland zu besiegen?

Wenn wir der Ukraine von Anfang an das gegeben hätten, was sie für das Erreichen ihrer militärisch-operativen Ziele von uns erbeten hat und unsere militärische Unterstützung langfristig geplant hätten, dann wäre die Ukraine militärisch heute völlig anders aufgestellt. Das haben wir aber nicht gemacht und jetzt sind wir an einem Punkt, wo die Ukraine in die Defensive geraten ist. Für sie wird es in den kommenden Monaten sehr schwer werden, sich gegen die russischen Truppen zu verteidigen. Die Verantwortung dafür liegt nicht bei den ukrainischen Kämpfern, sondern in dem mangelnden politischen Willen auf unserer Seite.

Es klingt wie ein Armutszeugnis für Europa, wenn zwei Jahre nach Kriegsbeginn aktuell der Munitionsmangel das größte Problem in der Ukraine ist. Trägt Deutschland da eine Mitschuld?

In meinen Augen ja. Seit dem ersten Kriegstag ist allen Beteiligten bewusst, dass in diesem konventionellen Krieg zwar sehr viel moderne Militärtechnologie wie Drohnen eingesetzt wird, aber Artillerie auch eine große Rolle spielt. Wenn man sich gegen heranstürmende Panzer wehren will, braucht man viel Artilleriemunition. Die Ukrainer haben diesen Punkt immer wieder unterstrichen. Es ist natürlich ein Armutszeugnis, dass die Europäische Union sich vor einem Jahr dafür feierte, eine Million Schuss herstellen zu wollen, dann aber feststellen musste, dass sie gerade mal irgendwas zwischen 200.000 und 250.000 schafft. Dafür ist auch die Bundesregierung mitverantwortlich. Auch bei anderen wichtigen Waffensystemen hat die Scholz-Regierung immer wieder gezögert: Sollen wir Gepard und Leopard liefern? Sollen wir Raketenabwehrsysteme liefern? Die politische Diskussion darüber zog sich stets über viele Monate in einer Endlosschleife hin, die der russischen Seite damit konkrete operative Vorteile gebracht hat. Das trifft auch auf die Marschflugkörper Taurus zu. Diese Verzögerungstaktik ist mit der notwendigen strategischen Ernsthaftigkeit unvereinbar.

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Was steckt denn dann für eine Strategie dahinter? Zum Beispiel aktuell beim Taurus?

Das Bundeskanzleramt hat in den letzten Monaten immer wieder verschiedene Argumente vorgebracht, warum es gegen eine Lieferung von Taurus ist. Keines dieser Argumente ist valide. Mal ganz davon abgesehen, dass Frankreich und Großbritannien bereits ähnliche Systeme liefern. Wenn man den Aussagen folgt, die aus dem engeren Umfeld von Bundeskanzler Scholz kommen, beispielsweise von seinem sicherheitspolitischen Berater Plötner, Kanzleramtschef Schmidt oder gar SPD-Fraktionschef Mützenich, dann habe ich das deutliche Gefühl, dass sie trotz aller offiziellen Solidaritätsbekundungen daraufsetzen, dass die Ukraine an den Verhandlungstisch mit Russland gezwungen werden soll. Russland darf den Krieg nicht gewinnen, sagt Scholz; aber er sagt nicht, dass wir das Terrorregime in Moskau zusammen mit der Ukraine militärisch besiegen müssen. Und während Russland eine rote Linie nach der anderen in der Ukraine überschreitet, redet die SPD-Führung davon, dass man Moskau nicht provozieren dürfte. Irgendwann, so hat das ja auch jüngst Christoph Heusgen, Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, gesagt, werden wir mit Wladimir Putin wieder an einem Tisch sitzen. Er redet von einem weiteren Minsk-Format. Diese Vorstellung von Verhandlungen mit einem Kriegsverbrecher und Mafiaboss ist für mich persönlich komplett inakzeptabel. So wird das auch in vielen anderen NATO-Hauptstädten gesehen. Aber eben nicht in Deutschland.

Nach Einschätzung des estnischen Geheimdienstes bereitet sich Russland militärisch auch auf eine Konfrontation mit dem Westen vor. Sehen Sie das auch so?

Am Anfang des Krieges war ich der Meinung, dass Putin kein Interesse an einer direkten militärischen Konfrontation mit der NATO hat. Mittlerweile sehe ich das etwas anders - eben weil wir Moskau gegenüber politisch und auch gesellschaftlich nur defensiv gegenüberstehen. Wir definieren keine eigenen roten Linien, haben keine gezielte Eindämmungsstrategie gegenüber Russland und reden jeden Tag viel über unsere eigenen militärischen Defizite. Damit bieten wir Putin eine Steilvorlage. Der Kreml schürt bewusst Ängste in unserer Gesellschaft und nutzt Parteien wie die AfD oder BSW sehr gezielt, um sein Narrativ in unseren Diskursen zu verbreiten. Für Moskau sind Desinformationskampagnen ein Teil der Kriegsführung gegen uns, denen wir wenig entgegensetzen. Putin setzt auf Zeit und hofft, dass der politische Wille in unseren Staaten, die Ukraine zu unterstützen, langsam aber sicher zerfällt.

Was müssten wir anders machen?

Wir müssen uns strategisch, politisch, wirtschaftlich und auch gesellschaftlich auf einen langen Konflikt mit Russland einstellen: unsere eigene Verteidigungsbereitschaft und Resilienz stärken, die Reihen politisch eng geschlossen halten und versuchen, dem Terrorregime die Eskalationsdominanz zu nehmen. Die Ukraine darf nicht ausbluten, weil wir es nicht auf die Reihe kriegen, sie ausreichend militärisch zu unterstützen oder Angst vor Moskau haben. Wir sollten möglichst rasch mit Beitrittsverhandlungen zur NATO beginnen. Unser strategisches Ziel muss es sein, das mörderische Regime in Russland in seinen Handlungsmöglichkeiten zu reduzieren, mit allem, was wir dafür an Instrumenten haben. Ich werbe bereits seit zwei Jahren für ein Neocontainment, also eine Strategie, die Russlands Aktionsradius in der Welt gezielt reduziert.

Reicht da das Zwei-Prozent-Ziel der NATO aus, das bis jetzt 18 der 31 Mitgliedsstaaten erreicht haben, um der möglichen Bedrohung durch Russland in den nächsten Jahren etwas entgegenzusetzen?

Nein. Wir klopfen uns auf die Schulter, weil eine größere Anzahl von NATO-Mitgliedern heute ein Ziel erreicht hat, auf das sie sich bereits vor zehn Jahren verpflichtet haben. Das wird nicht reichen. Wir müssten uns künftig auf drei oder sogar mehr Prozent einigen, um die Verteidigungsfähigkeiten der Europäer im Bündnis auf deutlich stabilere Beine zu stellen. Wir müssen viel mehr in neue Technologien investieren und den immer sehr fragmentierten europäischen Rüstungsbinnenmarkt neu ordnen. Sollten unsere amerikanischen Freunde ihre militärische Präsenz in Europa irgendwann einmal reduzieren, müssen wir als Europäer über interoperable, mobile und moderne Streitkräfte verfügen, die einen viel größeren Teil für unsere Verteidigung übernehmen können. Davon sind wir trotz etlicher Fortschritte aber noch ziemlich weit entfernt.

Glauben Sie an die Verlässlichkeit des US-Atomwaffen-Schutzschirms? Selbst bei einer Wiederwahl von Ex-Präsident Donald Trump?

Ich habe die erste Präsidentschaft von Donald Trump im NATO-Hauptquartier miterlebt. Er hat sich dort immer als ein ausgesprochen erratischer und unberechenbarer Mensch erwiesen. Selbst seine engsten Mitarbeiter wussten bei gut vorbereiteten Sitzungen häufig nicht, was er sagen würde. Er hat auch nur ein sehr, sehr geringes Interesse gezeigt, zu begreifen, wie das Bündnis funktioniert. Ich hätte ein sehr mulmiges Gefühl bei einer Wiederwahl von Trump, aber über den Einsatz von Atomwaffen entscheidet nicht allein der US-Präsident. Trump könnte nicht einfach den nuklearen Stecker in Europa ziehen. Aber wir müssen uns auf eine Situation einstellen, wo Trump weiter öffentliche Zweifel an der Verlässlichkeit der USA sät. Das reicht, um unsere Abschreckungsfähigkeit ins Wanken zu bringen, denn diese basiert auf unserer Glaubwürdigkeit. Wenn auch nur der kleinste Zweifel daran aufkommt, ist die wichtigste Währung der NATO beschädigt.

Mit Stefanie Babst sprach Vivian Micks

Quelle: ntv.de

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