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Warnsignale deutlich wie nie Auf die USA ist kein Verlass mehr

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Bundeskanzler Olaf Scholz traf in München auch Wolodymyr Selenskyj (rechts, verdeckt)

Bundeskanzler Olaf Scholz traf in München auch Wolodymyr Selenskyj (rechts, verdeckt)

(Foto: dpa)

Der große Partner aus Übersee, der lange seine schützende Hand über Europas Demokratien gehalten hat, schlingert. Deutschland und seine anderen Verbündeten müssen sich militärisch von den USA emanzipieren.

Schlaglichter der vergangenen Woche: Während der Münchner Sicherheitskonferenz wurde der Tod des russischen Oppositionspolitikers Alexej Nawalny in einem Straflager bekannt. Der ukrainische Präsident flehte die westlichen Verbündeten um Munition an und nannte neue US-Hilfen überlebenswichtig. Ukrainische Soldaten liegen derweil mit ihrem Handy im Schützengraben und hoffen auf eine Breaking News aus Washington. In der Ostukraine fällt die Stadt Awdijiwka. Und in den USA? Dort sind die Abgeordneten des Repräsentantenhauses ins lange Wochenende gefahren, statt über die seit Monaten diskutierten neuen Ukraine-Hilfen abzustimmen. Ins sehr lange Wochenende, bis zum 28. Februar.

Der Ukraine-Krieg ist für die US-Politik nicht mehr so wichtig. Es ist Wahlkampf, und der dauert noch ein dreiviertel Jahr. Wenn es um die eigene Sicherheit geht, dürfen sich Deutschland und Europa auf dieses Kasperletheater nicht mehr verlassen.

Es waren Durchhalteparolen, die US-Vizepräsidentin Kamala Harris in Bayern ausgab. "Präsident Joe Biden und ich stehen der Ukraine bei", war der zentrale Satz, garniert mit viel verbaler Folklore. Harris erwähnte auch Kräfte in ihrem Land, die "Verpflichtungen gegenüber unseren Verbündeten aufgeben wollen", welche die Welt destabilisieren würden. Sie meinte die Republikaner im Repräsentantenhaus und Donald Trump. Vor 14 langen Monaten bewilligte der Kongress in Washington, D.C. das letzte Mal Hilfen für die Ukraine in ihrem Verteidigungskrieg gegen Russland.

Dabei ging 2021 ein Aufatmen durch Europa, als der auch in Deutschland bekannte Joe Biden endlich als neuer US-Präsident vereidigt worden war. Dieser erklärte den Kampf der Demokratien gegen autoritäre Staaten zum großen Konflikt unserer Zeit. Das klang nach der vertrauten Supermacht, nach Führung und Systemkonflikt; einer neuen Erzählung, die Kapitalismus gegen Kommunismus ersetzt. Sie wurde greifbar durch Russlands Angriffskrieg ab Februar 2022 und die folgenden Militärhilfen der USA und ihrer Verbündeten. Doch viele US-Amerikaner kaufen Biden seine Geschichte nicht mehr ab.

Menschenleben als Verhandlungsmasse

Vor allem Republikanern ist die Story schlicht zu kostspielig. Die militärischen Ergebnisse - die Russen am Vormarsch zu hindern - sind schlecht zu verkaufen, denn der Krieg findet im fernen Europa statt. Längst ist das Gemetzel in der Ukraine zu Wahlkampfmunition und abstrakter innenpolitischer Verhandlungsmasse verkommen. Kiews Gegenoffensive blieb in weitläufigen Minenfeldern stecken, Moskau wirft Hunderttausende Soldaten in den Kampf und den ukrainischen Verteidigern bleibt nur die Hoffnung, dass sie sich mit schwindender Munition weiter halten können. Darauf, dass die europäischen Verbündeten sich nicht verkalkuliert haben, als sie sich darauf verließen, dass die Unterstützung der USA weitergeht, "as long as it takes".

"Es ist schockierend. So etwas habe ich noch nie erlebt", polterte Biden über die Republikaner, der in seinen Jahrzehnten im Kongress als Verhandler zwischen den politischen Welten schon einiges durchgestanden haben dürfte: "Sie drehen der russischen Bedrohung den Rücken zu, der NATO, unserer Verpflichtungen." Tatsächlich sind die Republikaner offensichtlich nicht mehrheitlich fähig, Dringlichkeiten historischen Ausmaßes zu erkennen.

Beschämend ist die aktuelle Situation für beide Seiten. Für die Republikaner, die nicht über den verhassten Nachbarsgarten hinaussehen können, während die Ukrainer ihr Leben lassen. Für Deutschland samt seiner europäischen Partner, die sich zu lange darauf verlassen haben, dass der große Verbündete in Übersee schon liefert, wenn der Russe wieder an die Tür im Ostflügel klopft. Nein, wenn es um europäische Sicherheit geht, sind diese mit sich selbst beschäftigten USA nicht mehr verlässlich.

Warnsignale wie nie

Die Lage wird nicht einfacher werden, potenziell eher komplizierter. Wenn ein Mann wie Trump, der weder Amt noch Parteifunktion innehat, mit ein paar Telefonaten erfahrenen Politikern die Knie schlackern lässt und damit einen Krieg mitentscheiden kann - was könnte dann bei einem möglichen Wahlsieg im November geschehen? Wladimir Putin gratuliert Towarischtsch Donnie telefonisch, der verlässt mit den USA die NATO, und der Kreml gibt Marschbefehle nach Westen? Die US-Regierung musste die Ukraine schon vor einem Jahr warnen, dass die Hilfen aller Voraussicht nach nicht ewig weiter fließen würden. Die Signale sind so deutlich wie nie.

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Ja, Trump könnte doch nicht antreten oder die Wahl erneut verlieren. Doch für Europa wäre das kein Grund zum Aufatmen. Denn je nach Mehrheitslage werden in den USA alle paar Monate sämtliche Gesetzesprojekte zur Verhandlungsmasse, weil der Kongress die Regierung am ausgestreckten Arm verhungern lassen kann. Nach legislativen Zugeständnissen drehen sich die Räder dann auf Pump weiter. Aber wer weiß, wie lange das noch gut geht? Irgendwann könnte entweder der Verteidigungshaushalt schrumpfen, oder andere Staatsleistungen werden gekürzt, was das soziale Explosivpotenzial weiter wachsen ließe. Wie sich dies entladen kann, war 2020 und 2021 zu beobachten. Milizen marschierten durch die Straßen, planten Umstürze, stürmten schließlich das Kapitol mit der Absicht, Politiker zu töten.

Von dieser schlingernden Supermacht muss Deutschland sich schleunigst emanzipieren. Frankreich sollte zudem seine Atomwaffenregelung überdenken. Nicht, um sich von den USA zu entfernen. Sondern um gemeinsam entscheidungsfähiger zu werden. Dafür muss Europa sich zusammenraufen und nicht ständig auf die helfende Hand aus Übersee warten. Denn die ist viel zu zittrig geworden.

Quelle: ntv.de

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