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Hofreiter über zwei Jahre Krieg "Ukraine muss versuchen, die Front bis 2025 zu halten"

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Tote, Verletzte, Traumatisierte: Während einer Trauerzeremonie für getötete Soldaten im August 2023 im ukrainischen Lwiw kann ein Soldat seine Tränen nicht zurückhalten.

Tote, Verletzte, Traumatisierte: Während einer Trauerzeremonie für getötete Soldaten im August 2023 im ukrainischen Lwiw kann ein Soldat seine Tränen nicht zurückhalten.

(Foto: picture alliance / AA)

Zum Jahrestag der russischen Invasion zeichnet Europapolitiker Anton Hofreiter ein gemischtes Bild von der Lage in der Ukraine. Das Land müsse darauf setzen, im kommenden Jahr wieder in die Offensive zu kommen, sagt der Vorsitzende des Europaausschusses im Bundestag im Interview mit ntv.de. Verhandlungen mit Russland seien keine Option, weil Wladimir Putin daran schlicht kein Interesse habe. "Die Verzweiflung darüber, dass dieser Krieg immer noch andauert, darüber, dass so schrecklich viele Menschen sterben, nimmt natürlich zu", sagt Grünen-Politiker Hofreiter über die Stimmung. Dennoch sei der Widerstand gegen Russland ungebrochen - und eine Abstimmung über Präsident Wolodymyr Selenskyj keine Option.

ntv.de: Nach der groß angelegten russischen Invasion geht der Krieg in der Ukraine in sein drittes Jahr. Mit welcher Perspektive?

Zur Person
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(Foto: picture alliance / Geisler-Fotopress)

Anton Hofreiter ist seit Dezember 2021 der Vorsitzende des Bundestagsausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union. Der frühere Fraktionsvorsitzende von Bündnis90/Die Grünen hat sich seither vor allem als entschiedener Befürworter robuster Militärhilfen für die von Russland angegriffene Ukraine profiliert. Der 54-jährige Doktor der Biologie hat das Land in den vergangenen Jahren wiederholt besucht und ukrainische Politikerinnen in Berlin empfangen.

Anton Hofreiter: Alles deutet darauf hin, dass der Krieg noch sehr, sehr lange dauern wird. Die Ukrainer können nicht nachgeben, Putin will aus strategischen Gründen nicht aufhören, anzugreifen. Es ist entscheidend, dass es der ukrainischen Armee gelingt, dieses Jahr die Front zu halten. Wenn in dieser Zeit hoffentlich Europas Produktion von Munition und weiterer Ausrüstung nach oben geht, könnte die ukrainische Armee 2025 in die Lage versetzt werden, im Verteidigungskrieg gegen Russland die Oberhand zu gewinnen.

Die Front zu halten, war schon die Maßgabe seit dem Herbst 2022 bis in den vergangenen Sommer hinein, mit dem Ergebnis, dass Russland seine Stellungen unüberwindbar ausgebaut hat. Muss die Ukraine nicht versuchen, möglichst bald wieder in die Offensive zu kommen?

Ich sehe nicht, dass die Ukraine dieses Jahr eine Offensive starten kann. Aufgrund des Munitionsmangels, aufgrund der Schwierigkeiten in den USA, aufgrund der erst anlaufenden Produktion in Europa wäre es ein gutes Ergebnis, wenn Russland zumindest keine weiteren Geländegewinne erzielt. So schrecklich das klingt, es wäre immer noch das Beste, was der Ukraine in den kommenden Monaten gelingen kann.

Wann in den vergangenen zwei Jahren hatten Sie die größte Hoffnung, dass die Ukraine es schaffen könnte, die Russen aus dem Land zu jagen?

Das war im Herbst 2022, als es der ukrainischen Armee gelungen ist, das Gebiet um Charkiw mit hoher Geschwindigkeit zurückzuerobern. Hätte der Westen zu diesem Zeitpunkt schon Kampfpanzer und anderes modernes Gerät geliefert, sähe die Lage in der Ukraine heute ganz anders aus. Aber das ist vergossene Milch. Die Ukraine muss in die Lage versetzt werden, im kommenden Jahr Russland so weit unter Druck zu setzen, dass Putin einsieht, dass er den Krieg nicht gewinnen wird.

Im Herbst 2022 und dann noch einmal im Juni 2023, während des Wagner-Aufstands, erschien es westlichen Beobachtern tatsächlich möglich, dass Putin wackelt. Heute scheint er fester denn je im Sattel zu sitzen. Was ist Ihre Deutung?

Aus der Entfernung betrachtet hat er gewackelt, als Russland 2022 sich aus weiten Teilen bereits eroberten Gebiets wieder zurückziehen musste. Nun scheint er sehr fest im Sattel zu sitzen. Der russischen Wirtschaft gelingt es gut, die Sanktionen zu umgehen. Die Kriegswirtschaft läuft. Viele Menschen in Russland werden zwar ärmer, aber das ist in einer Diktatur von geringer Relevanz: Wer sich beschwert, wird verhaftet oder anderweitig drangsaliert. Putin kann sich vor diesem Hintergrund vorstellen, auch weitere Länder zu attackieren.

Jeder Bericht über einen angeblich wirren, isolierten oder kranken Putin hat im Westen viel Aufmerksamkeit erhalten. Der Eindruck hat sich nicht bestätigt. Muss man hieraus für den weiteren Kriegsverlauf eine Lehre ziehen?

Ganz vieles war einfach Wunschdenken. In diese Falle sind wir in Bezug auf Putin immer wieder gelaufen: Man hat sich wiederholt Illusionen hingegeben, obwohl Putin schon Anfang der 2000er-Jahre im zweiten Tschetschenienkrieg kein Problem hatte, bis zu 80.000 Zivilisten töten zu lassen. Auch ich habe mich geirrt. 2014 dachte ich noch, man könnte mit ihm verhandeln. Seit dem 24. Februar 2022 muss aber jedem klar sein, dass das nicht der Fall ist. Diese Einsicht hat in Deutschland aber nicht überall Einzug gehalten, leider.

Der russische Präsident hat sich in einem Gespräch mit dem Trump-Unterstützer Tucker Carlson betont unbeirrt gezeigt. Alles Show für das westliche Publikum oder ein Beleg für seine Siegesgewissheit?

Putin ist wegen einer Reihe von Gründen im Moment siegesgewiss: Er setzt offensichtlich darauf, dass Donald Trump wieder US-Präsident wird. Schon jetzt blockieren dessen Republikaner die US-Hilfen für die Ukraine. Zudem bekommt auch er die monatelangen Debatten in Deutschland über Hilfslieferungen mit. Er registriert, dass die Warnungen der Ost- und Mittelosteuropäer und der Nordeuropäer wieder nicht ausreichend ernst genommen werden von den anderen EU-Staaten. Er sieht, dass seine spaltende Propaganda wirkt und dass seine Helfershelfer vom französischen Front National oder der AfD Erfolge haben. All das bestärkt ihn darin, genauso weiterzumachen.

Nachdem sich Russlands Armee zu Beginn der Invasion schlecht vorbereitet und desorganisiert gezeigt hat, hat sich das Schlachtfeld zu einem Krieg der Quantität entwickelt: Russland setzt erfolgreich auf die schiere Masse an billigen Drohnen, an Artillerie und auch an Soldaten. Müssen wir unser Bild von dieser Armee korrigieren?

Eine Armee, die zwei Jahre lang im Krieg ist, lernt automatisch etwas. Sie hat aber immer noch große strategische Schwierigkeiten. Der Krieg ist anders, als man es sich vorher vorstellen konnte; Artillerie in großer Menge spielt eine viel größere Rolle, als es für moderne Kriege bis dato angenommen wurde. Die Durchhaltefähigkeit der russischen Armee ist einfach sehr groß. Das hat sie auch historisch wiederholt bewiesen.

Stellt sich nicht auch für entschiedene Ukraine-Unterstützer die Frage, ob die Konditionen für einen Waffenstillstand jetzt zumindest besser wären als alles, was unter einem US-Präsidenten Trump herauskommen würde?

Nur hat Putin auch jetzt schon kein Interesse an einem Waffenstillstand. Das Leben der eigenen Soldaten ist ihm egal. Sie interessieren ihn höchstens als eine Ressource, von der er genügend hat. Er ist deshalb überzeugt, auf dem Schlachtfeld siegen und noch mehr gewinnen zu können als bei einem Waffenstillstand zum jetzigen Zeitpunkt. Es ist also naiv, anzunehmen, dass Putin auf ernsthafte Verhandlungen mit der Ukraine eingehen würde. Solange sich der Westen zögerlich, nicht geschlossen und schwach zeigt, sieht Putin keinen Grund, den Krieg zu beenden.

Die Alternative ist ein womöglich noch viele Jahre lang tobender Krieg, den in der Ukraine ein demokratisch schwach legitimierter Präsident anführt, denn eigentlich stünden im März Präsidentschaftswahlen an. Wie lange kann Wolodymyr Selenskyj die Wahlen aufschieben?

Das wird auch in der Ukraine intensiv diskutiert. Aber Opposition und Regierungsabgeordnete - zumindest alle, mit denen ich bisher persönlich gesprochen habe - sind sich einig darüber, dass man während des Kriegs auf keinen Fall wählen sollte. Menschen sind an der Front, andere auf der Flucht. Ein fairer Wahlkampf wäre nicht zu garantieren.

Eine Wahl wäre zumindest ein objektiver Indikator dafür, wie sehr die Bevölkerung noch hinter dem Verteidigungskrieg steht. Nimmt man nur den Zulauf freiwilliger Soldaten zur Hand, deutet deren Fernbleiben auf eine schwindende Überzeugung.

Das ist schwer zu sagen. Ich war seit Kriegsbeginn dreimal in der Ukraine. Meiner Beobachtung nach hat die Unterstützung für den Widerstand gegen die russische Armee nicht nachgelassen. Die Verzweiflung darüber, dass dieser Krieg immer noch andauert, darüber, dass so schrecklich viele Menschen sterben, nimmt natürlich zu. Die Menschen wünschen sich nichts mehr, als dass der Krieg endlich zu Ende geht. Aber angesichts dessen, was die Menschen in der Ukraine mit der russischen Armee erleben und erlebt haben, wünschen sie sich eben auch, dass die Russen aus der Ukraine verschwinden. Massenhafte Vergewaltigung und Mord an Zivilisten, gefolterte Jugendliche und Kinder: All das ist ja belegt.

Die russische Besatzung abzulehnen und das eigene Leben im Krieg aufs Spiel zu setzten, sind aber sehr verschiedene Dinge. Würden Sie einem nach Deutschland geflohenen Ukrainer im persönlichen Gespräch empfehlen, sich für den Fronteinsatz zu melden?

Das ist eine sehr persönliche Entscheidung. Wir können nur dafür sorgen, dass die Soldatinnen und Soldaten so gut ausgerüstet sind, dass sie eine möglichst hohe Überlebenschance haben. Hier an diesem Tisch, wo wir jetzt sitzen, saßen auch schon öfter Soldaten aus der Ukraine - Logistiker, kämpfende Einheiten, Sanitäter. Sie wünschen sich nichts so sehr, als dass wir ihnen einfach mehr und bessere Ausrüstung zur Verfügung stellen. Und die haben überhaupt keinen Zweifel daran gezeigt, dass sie weiterkämpfen werden.

Die Bundesregierung hat ein Sicherheitsabkommen mit Kiew geschlossen und Olaf Scholz warb zuletzt in den USA und in der EU intensiv für mehr militärische Unterstützung für die Ukraine. Ändert das Ihr kritisches Bild vom Bundeskanzler?

Olaf Scholz hat in letzter Zeit manches richtig gemacht - und vor allem gesagt. Die Sicherheitsvereinbarung mit der Ukraine hat einen hohen symbolischen Wert, sie bindet beide Länder noch enger aneinander. Echte Sicherheitsgarantien enthält das Abkommen aber nicht. Die Bundesregierung sagt der Ukraine lediglich zu, die bisherige Unterstützung aufrechtzuerhalten. Das reicht nicht, um die Ukraine in die Lage zu versetzen, die russischen Angriffe abzuwehren und die Kontrolle über ihr Territorium zurückzuerlangen. Und es reicht nicht, um Russland im Falle einer Waffenruhe von einem erneuten Angriff abzuschrecken. Wenn wir den Frieden in Europa langfristig sichern wollen, müssen wir mehr tun.

In absoluten Zahlen unterstützt kein EU-Land die Ukraine stärker. Gemessen an der Wirtschaftsleistung ist Deutschland im oberen Mittelfeld - vor jeder anderen großen Industrienation. Wie erklären Sie sich als Europapolitiker die Zurückhaltung anderer Länder wie Spanien, Portugal und selbst Frankreich?

Das lässt sich geografisch ableiten. Die Dringlichkeit der Hilfe ist am größten in den nordischen Staaten, in den baltischen Staaten, in Polen und dann noch teilweise Bulgarien und Rumänien. Es folgt Dänemark und dann Deutschland. In Richtung Süden und Westen nimmt die Unterstützungsleistung ab. Griechenland ist ein Spezialfall: Die Griechen machen sich große Sorgen, was die Türkei unter Präsident Erdogan machten könnte, und brauchen daher ihre Militärgüter selbst. Und Ungarn unter dem Putin-Freund Orban ist ebenfalls ein Sonderfall.

Und Frankreich?

Frankreich liefert immerhin den Marschflugkörper Scalp. Die sind ähnlich, aber nicht ganz so gut wie die Taurus-Raketen. Emmanuel Macron ist weniger ängstlich als Scholz, dem Volumen nach tut Frankreich aber weniger als Deutschland. Das Land steht allerdings ökonomisch vor noch größeren Herausforderungen als wir. Natürlich haben wir ein Problem bei vielen europäischen Ländern. Am Ende ist aber Deutschland das mit Abstand größte und mächtigste, ökonomisch stärkste Land innerhalb der Europäischen Union. Auf Berlin kommt es an.

Das könnte erst recht gelten, wenn Donald Trump tatsächlich wieder ins Amt kommt. Angela Merkel galt nach dem Ende der Regierungszeit von Barack Obama als Anführerin der freien Welt. Wird Ihnen bange, wenn diese Rolle - wider Willen - Olaf Scholz zufällt?

Man kann Trump eins und - was hoffentlich nicht passiert - Trump zwei schwer vergleichen. In der Rückschau wissen wir, was alles nicht passiert ist unter Merkel, und wie wenig wir auf Trump vorbereitet waren. Trumps zweite Amtszeit fiele in Zeiten, in denen Krieg ist in Europa, in denen Russland und China immer aggressiver auftreten. Deutschland und Europa sind ökonomisch stark genug, dem die Stirn zu bieten und unsere Demokratie zu verteidigen. Dafür muss Scholz seinen vielen guten Worten aber auch Taten folgen lassen.

Das heißt?

Ich bin der festen Überzeugung, dass wir die Schuldenbremse aussetzen müssen. Im Vergleich zu allen anderen Industrieländern haben wir die niedrigste Staatsverschuldung. Wir brauchen in dieser Vielfachkrise aber Geld, es geht ja nicht nur um die Ukraine und mehr Munition, sondern auch um den Kampf gegen die Klimakrise und die Folgen eines chinesischen Angriffs auf Taiwan. Wir erleben multiple Krisen und einen direkten Angriff auf die Demokratie. Dem zu begegnen, verlangt einen breiteren Sicherheitsbegriff, als nur ein Sondervermögen für die Bundeswehr aufzusetzen. Auch die Versorgung mit Halbleitern zu unterbrechen, die fast vollständig aus Taiwan kommen, wäre eine gegen uns gerichtete Waffe. Ohne Halbleiter kommt unsere Produktion zum Erliegen, auch die von Rüstungsgütern. Wir sind bei medizinischen Produkten, seltenen Erden oder Vorprodukten der Industrie abhängig von China. Dagegen müssen wir uns genauso wappnen wie vor Cyberangriffen und Attacken auf die kritische Infrastruktur. Für all das brauchen wir ausreichend Geld.

Mit Anton Hofreiter sprach Sebastian Huld

Quelle: ntv.de

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