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Zentrale Botschaft geht unter Für Selenskyj war es kein so guter Tag in Berlin

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"Slava Ukraini!" - Selenskyj und Scholz in Berlin.

"Slava Ukraini!" - Selenskyj und Scholz in Berlin.

(Foto: picture alliance/dpa)

Eigentlich will die Ukraine kurz vor dem Jahrestag des Einmarschs in die Ukraine vor zwei Jahren gute Nachrichten verbreiten: Trotz schwieriger Lage wachsen die Unterstützung und der Zusammenhalt mit Europa. Dann kommen Nachrichten aus Russland.

Sichtlich erschüttert und mit ernsten Mienen treten Bundeskanzler Olaf Scholz und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Freitagmittag im Kanzleramt vor die Mikrofone. Eigentlich hätte es ein historischer Moment werden sollen. Dann aber müssen beide ein anderes Ereignis kommentieren. Nur Minuten vor dem gemeinsamen Auftritt war der Tod von Alexej Nawalny bekannt geworden. Scholz beginnt die Pressekonferenz mit den Worten, Nawalny habe für seinen Mut "mit seinem Leben bezahlt".

Dabei war der Grund für Selenskyjs Reise nach Berlin genau das Gegenteil: Er wollte gute Nachrichten und Hoffnung verbreiten, die sein Land an diesen schweren Tagen mehr denn je brauchen. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine jährt sich bald zum zweiten Mal, die ukrainischen Streitkräfte stehen kurz davor, die strategisch wichtige und schwer umkämpfte Stadt Awdijiwka an die Russen zu verlieren, und den Soldaten an der Front geht die Munition aus. Währenddessen lassen versprochene Waffen der Verbündeten, wie die zugesagten F-16 Kampfjets aus den Niederlanden und Dänemark, auf sich warten und die Hilfspakete werden kleiner oder liegen - wie in den USA - auf Eis. Das bilaterale Sicherheitsabkommen mit Deutschland sollte da eigentlich für positive Schlagzeilen sorgen.

Schlagzeilen macht stattdessen der Tod von Nawalny. Nicht nur für Scholz, der den Regimegegner getroffen hatte, als der nach dem Giftanschlag 2020 zur Behandlung in Berlin war, auch für die Ukraine sind es schlechte Nachrichten. Zum einen hat es Putin erneut geschafft, mit seiner Brutalität zu schockieren. Wer in Russland Kritik äußere und sich für die Demokratie einsetze, müsse um Sicherheit und Leben fürchten, sagt Scholz. Putin habe damit aufs Neue bewiesen, wie weit Russland von einer Demokratie tatsächlich entfernt ist.

Der Kampf findet auch im Informationsraum statt

Und noch etwas ist schockierend: Dass es der Kreml-Chef nach dem Einmarsch in die Ukraine und den Gräueltaten in Butscha und anderen ukrainischen Orten immer noch schafft, den Westen und andere demokratische Staaten mit neuer Gewalt zu schocken, und so versucht, weiter Angst vor seinem Regime zu schüren. Und das, obwohl die Liste der ermordeten Oppositionellen in Russland bereits sehr lang ist.

Vor allem aber hat Putin es geschafft, die Nachrichtenlage an sich zu reißen. Der Zeitpunkt, den die russischen Behörden wählten, um Nawalnys Tod bekannt zu geben, kann Zufall sein. Es kann aber auch Kalkül dahinterstecken. Denn Putin hat Selenskyj eines genommen: die Oberhand im öffentlichen Raum. Ungeachtet dessen, was in dem Sicherheitsabkommen zwischen Deutschland und der Ukraine im Detail steht, geht es bei dem Termin in Berlin und Paris vor allem darum, langfristige Unterstützung der Ukraine und Geschlossenheit innerhalb Europas gegenüber dem Aggressor zu demonstrieren. Diese Botschaft geht nun unter. Stattdessen sind die Nachrichtenseiten voll von Nawalny und Putins Mordregime. Auch auf der Münchner Sicherheitskonferenz, die an diesem Freitag beginnt, steht Nawalnys Tod im Mittelpunkt.

Wie wichtig der Kampf im Informationsraum ist, hat sich seit Kriegsbeginn in den vergangenen zwei Jahren etliche Male gezeigt. Sowohl die Ukraine als auch Russland versuchen, die Nachrichtenlage zu ihrem Vorteil zu dominieren, um die Meinung der internationalen und eigenen Öffentlichkeit zu beeinflussen. Als im vergangenen Jahr Bachmut nach monatelangem blutigem Kampf in die Hände der Russen fiel, gelang der Ukraine mit den Angriffen auf die russische Stadt Belgorod ein geschicktes Ablenkungsmanöver. Über Bachmut sprach plötzlich kaum noch jemand.

Abkommen ersetzt keine NATO-Mitgliedschaft

Auch dieses Mal könnte der Zeitpunkt mit Bedacht gewählt worden sein. Tatsächlich ist das bilaterale Abkommen für die Ukraine ein großer und wichtiger Schritt. "Lieber Wolodymyr, die Beziehungen zwischen Deutschland und der Ukraine haben in den vergangenen beiden Jahren eine ganz neue Qualität erreicht", sagt Scholz vor der Presse. "Die heutige Vereinbarung steht dafür stellvertretend, und sie steht für eine Zukunft, in der (…) kein russischer Diktatfrieden sein darf."

Zusätzlich soll ein neues militärisches Hilfspaket im Wert von 1,1 Milliarden Euro der Ukraine unter anderem die Lieferung von 36 Panzer- und Radhaubitzen aus Industriebeständen, 120.000 Schuss Artilleriemunition, zwei weitere Skynex-Luftverteidigungssysteme und dringend benötigte Flugkörper vom Typ IRIS-T zusichern. Von den ebenfalls gewünschten Taurus-Marschflugkörpern ist keine Rede.

Das Abkommen mit der Ukraine könne "in seiner Bedeutung kaum überschätzt werden", so Scholz. Fast noch wichtiger, sagt Selenskyj, seien aber die konkreten Zahlen, die in dem Abkommen auch genannt werden: Nicht nur die Geldsumme sei entscheidend, sondern wie viele Jahre Deutschland sich verpflichte, der Ukraine beizustehen. Auch dann, wenn es eines Tages zu einer neuen russischen Aggression kommen sollte. Für die Ukraine und Europa sei das "ein sehr wichtiger Tag", sagt Selenskyj. "Das ist Artilleriemunition, die wir so dringend brauchen, das ist kritisches Gut für uns an der Front, das sind Haubitzen und auch andere Waffen sowie Luftverteidigungssysteme, die wir so verzweifelt brauchen."

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Nach Großbritannien ist Deutschland das zweite Land, mit dem die Ukraine ein bilaterales Sicherheitsabkommen abschließt. "Weitere werden folgen", verspricht Selenskyj. Das nächste gleich heute in Paris.

Trotzdem kommen solche Sicherheitsabkommen in ihrer Bedeutung nicht einer EU-Mitgliedschaft oder dem Eintritt in die NATO gleich. Für Selenskyj sind sie, wie er selbst zugibt, aufgrund der Unsicherheiten in den USA zwar ein großer Schritt in die richtige Richtung. Aber das reiche nicht. "Wir sind de facto schon ein Teil der europäischen oder euroatlantischen Familie, aber das müssen wir irgendwann auch juristisch festhalten."

Quelle: ntv.de

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