
Musste im Regen von Manchester einiges dirigieren: Thomas Tuchel.
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Trotz der deutlichen Pleite gegen Manchester City hat sich Thomas Tuchel in seine Mannschaft "schockverliebt". Das Spiel zeigt, dass der Bayern-Trainer noch viel Arbeit vor sich hat - und auch ein zentrales Problem von seinem Vorgänger geerbt.
Selbst der Liveticker der UEFA konnte es sich nicht verkneifen. "Ein Penny für die Gedanken von Julian Nagelsmann", hieß es da gegen Spielende bei Bayerns 0:3-Pleite gegen Manchester City im Viertelfinal-Hinspiel in der Champions League. Die Lacher waren auf Seiten der UEFA. Dabei wäre es wirklich interessant, einen Einblick in die Gedankenwelt des 35-Jährigen zu bekommen, der vor drei Wochen überraschend freigestellt wurde. Hat Nagelsmann das Spiel gesehen? Wenn ja, wie und wo?
Wie auch immer, für den FC Bayern sind diese Fragen gerade nebensächlich. Denn als der UEFA-Liveticker in der 82. Minute zu spotten begann, standen die Münchner vor einem viel dringenderen Problem als die Spitze gegen die Bosse. Der deutsche Rekordmeister hatte zu diesem Zeitpunkt bereits die drei Treffer kassiert, die nach dem Pokal-Aus in der vergangenen Woche das nächste Saisonziel gefährden. Erst war es das Traumtor von Citys Rodri (27.), dann folgte der verhängnisvolle Fehler von Bayern-Verteidiger Dayot Upamecano, den Bernardo Silva ins 2:0 ummünzte (70.), und am Ende noch das Tor von Erling Haaland (76.).
Vor allem einer wollte sich mit dem Resultat nicht so richtig abfinden: Thomas Tuchel! Der neue Bayern-Trainer sogar "schockverliebt" in sein Team, behauptete er. Das Ergebnis sehe er überhaupt nicht. "Wir sind bestraft worden in Phasen, wo wir absolut die bessere Mannschaft waren, wo wir das Momentum auf unserer Seite hatten", sagte er bei "Prime Video" und betonte: "Da war mehr drin." Sein Zweckoptimismus schließt auch kein Wunder in der nächsten Woche beim Rückspiel aus. "Das ist ein ganz bitteres Ergebnis", sagte er, "das müssen wir erst mal verdauen." Aber: "Fußball ist Fußball, abgeschenkt wird nichts."
Die Panik des FCB
Nur musste auch der "schockverliebte" Tuchel sehen, dass seine Mannschaft nach der 70. Minute völlig eingebrochen war und zudem die Statistik seine These nicht stützt (City hatte die besseren Chancen). Vor zwei Jahren heuerte er mitten in der Saison beim FC Chelsea an und gewann sofort die Königsklasse. Diesmal wiederholt sich das wohl nicht, außer es gibt ein Wunder im Rückspiel. Vor nicht einmal drei Wochen ersetzte Tuchel den überraschend freigestellten Nagelsmann. Es geht Schlag auf Schlag: Ligagipfel gegen Dortmund, Pokal-Viertelfinale gegen Freiburg, das Giganten-Duell gegen City. Tuchel sollte dabei praktisch ohne Vorbereitungszeit den Bayern die Titelchancen - Bundesliga, DFB-Pokal, Königsklasse - wahren. Geklappt hat das nicht.
Hinzu kommt, dass Tuchels neuer Klub, spätestens seit dem Skiunfall von Kapitän Manuel Neuer, ein äußerst dünnes Nervenkostüm hat. Mit dem überraschenden Nagelsmann-Rauswurf drückten sie dann den Panikknopf. Der erhoffte Trainereffekt, der eigentlich Blockaden lösen sollte, ist nicht nur ausgeblieben, sondern ins Gegenteil umgeschlagen: Zuletzt zeigte das die Jubel-Posse um Joshua Kimmich. Nach dem knappen 1:0-Ligaerfolg am Wochenende gegen Freiburg ballte er triumphierend seine Fäuste in Richtung der Freiburger Kurve.
Die Aktion und die Kritik daran lenkten nicht nur von der eigenen Leistung ab, sie boten auch Einblick in das Innenleben Kimmichs. "Da war der Druck vielleicht so groß, dass er das gemacht hat", analysierte Freiburgs Trainer Christian Streich. "Wir sind jetzt nicht in die Bayern-Kurve gerannt nach unserem Sieg, wenn ich mich richtig erinnere. Aber vielleicht ist es dann bei den Bayern noch mal was anderes, weil sie so selten verlieren."
Und auch die restlichen Bayern-Stars wirken noch nicht wirklich befreit. Schon vor dem Freiburgspiel räumte Tuchel ein, dass es nach einem Muster aussehe, dass dem 4:2 gegen Borussia Dortmund und der Übernahme der Tabellenführung umgehend die Niederlage im Pokal folgte. Gleichzeitig merkte er auch an: "Ich weigere mich, ein Muster daraus zu machen." Mit Leon Goretzka, Sadio Mané, Serge Gnabry und Kimmich spielen derzeit zahlreiche Leistungsträger nicht ihre beste Saison. Einzig Leroy Sané, der auch gegen City immer wieder gefährlich wurde, scheint unter dem neuen Coach eine neue Rolle gefunden zu haben. Wobei der nun im Mittelpunkt der Berichte über Prügel in der Bayern-Kabine steht, Sadio Mané soll ihm ins Gesicht geschlagen haben.
Fünf Rechtsverteidiger, ein Mittelstürmer
So zeigt auch das eigentliche Prunkstück dieser Bayern-Saison seine Schwächen - der Kader. Tuchel kann dafür relativ wenig, es liegt im Aufgabenbereich von Sportvorstand Hasan Salihamidžić. Noch vor einem Monat wurde der für seinen Kader gelobt. "Wenn alle fit sind, ist das jetzt der in der Breite qualitativ am besten aufgestellte Bayern-Kader aller Zeiten", sagte Rekordnationalspieler Lothar Matthäus damals. Spätestens gegen City zeigt sich, dass es nun doch Probleme in der Breite gibt.
Denn klar, die Münchner haben mit João Cancelo, Benjamin Pavard, Noussair Mazraoui, Josip Stanisic und Bouna Sarr insgesamt fünf Rechtsverteidiger, aber im Sturmzentrum wird es trotzdem dünn. Hinter Eric-Maxim Choupo-Moting fehlt eine Alternative, der 17-jährige Mathys Tel braucht noch etwas Zeit. Es gibt sonst niemanden, der die Rolle des abgewanderten Robert Lewandowski ersetzt.
All diese Bayern-Baustellen
Weil Choupo-Moting nun auch noch verletzt ist, behalf sich Tuchel gegen City mit Gnabry. Das hatte gleich zwei Nachteile: Nicht nur wird das Spiel der Münchner dadurch berechenbarer, denn Flanken sind keine Option mehr, sondern auch ungefährlicher. Mehr als die Hälfte ihrer zwölf Torschüsse gaben die Bayern außerhalb des Sechzehners ab. Gegen Ederson, einem der besten Torhüter der Welt, ist das nicht effektiv. Und Gnabry blieb harmlos.
Derweil gibt es bei Man City und dessen Besitzern aus Abu Dhabi ein ganz anderes Bild. Zuletzt haben sie zehn Spiele am Stück gewonnen. Trainer Pep Guardiola kennt und dirigiert sein Team nicht nur seit Jahren, sondern plant auch den Kader. Die Lücke im Sturmzentrum füllt dort mit Tormonster Haaland der derzeit beste Angreifer der Welt - für Bayern war er nicht finanzierbar. Dahinter spielen mit Kevin de Bruyne, İlkay Gündoğan und David Silva überragende Mittelfeldspieler. Selbst Flügelspieler Jack Grealish blieb gegen Bayern bis auf die Vorarbeit zum 2:0 offensiv zwar unauffällig, warf sich defensiv jedoch in jeden Zweikampf.
Derweil befindet sich der "schockverliebte" Tuchel mit den Bayern noch in der Kennlernphase. Es fehlt nicht nur ein klassischer Mittelstürmer, sondern auch ein echter Sechser. Jemand, der Angriffe wie bei City Rodri oder der umfunktionierte Innenverteidiger John Stones schon vor der eigenen Abwehrkette abfängt. Dass das nicht unbedingt die Stärke des Duos Kimmich und Goretzka ist, zeigte sich zuletzt bei der deutschen Nationalmannschaft. Zudem zieht am Horizont nun auch noch eine Torwart-Diskussion um Yann Sommer auf. Seine Leistung in Manchester war wenig überzeugend. Es sind viele Aufgaben für Tuchel. Dagegen muss sich der UEFA-Tickerschreiber etwas Neues suchen - er wurde vom Europäischen Fußballverband gefeuert.
Quelle: ntv.de