FC Bayern hadert nach Klatsche "Schockverliebter" Tuchel versteht die Welt nicht mehr
12.04.2023, 06:51 Uhr
Das war's wohl. Oder doch nicht? Der FC Bayern braucht zum Einzug in das Halbfinale der Champions League ein Wunder. Trainer Thomas Tuchel ist nach der Leistung seiner Mannschaft gegen Manchester City und trotz der klaren Niederlage "schockverliebt".
Leon Goretzka stand ein bisschen zu nah im Dreieck. Joshua Kimmich war ein wenig zu weit weg. Jamal Musiala verteidigte ohne Körperkontakt. Dass der spanische Staubsauger Rodri den Ball am späten Dienstagabend aus 20 Metern in den Winkel schlenzte, auch noch mit falschem (weil linken) Fuß, damit hätte Thomas Tuchel noch gut umgehen können. Solche Dinge passieren eben im Fußball. Weil an diesem Dienstagabend im stürmischen und regnerischen Etihad Stadium von Manchester City aber noch ganz andere Dinge geschehen waren, verstand der Trainer des FC Bayern nach Abpfiff die Welt nicht mehr. Mit 0:3 (0:1) war seine Mannschaft im Viertelfinalhinspiel der Champions League abgesoffen und verspielte damit vermutlich die zweite Titelchance binnen einer Woche.
Gegen den SC Freiburg waren die Münchner aus dem DFB-Pokal geflogen. Ebenfalls im Viertelfinale, ebenfalls eingeleitet durch einen Sonntagsschuss mit dem falschen Fuß. Die Blitz-Rettungsmission des neuen Trainers, der vor knapp zwei Wochen völlig überraschend Julian Nagelsmann abgelöst hatte, droht nun krachend zu scheitern. Und Tuchel weiß eigentlich gar nicht, warum. Äußerst zufrieden war er nämlich gewesen, als er die Niederlage gegen das Gigantenteam in Himmelblau und deren Coach Josep Guardiola aufarbeitet. "Ich weigere mich, da irgendwie die Leistung schlechtzureden. Ich habe eine sehr, sehr gute Leistung gesehen bis zur 70. Minute. Ich bin hochzufrieden", sagte Tuchel bei Amazon Prime. "Da war absolut mehr drin, wir hätten viel mehr verdient." Auf der Pressekonferenz später befand er noch: "Das Resultat zeigt nicht die Geschichte des Spiels."
Tuchel setzt auf Tiefe statt auf Müller
Den Fußballern aus München waren in Manchester auch Dinge gelungen, die durchaus erstaunlich waren. Sie hatten sich etwa genauso viel Ballbesitz verdient wie die Gastgeber, die in ihrer DNA tief verankert haben, Ball und Gegner komplett zu kontrollieren und dann mit präzisen Attacken zu panieren. So hatten sie zuletzt RB Leipzig mit 7:0 vermöbelt, den FC Burnley mit 6:0 und Jürgen Klopps Liverpool mit 4:1. Gegen ein ähnliches Debakel stemmte sich die Mannschaft von Tuchel mit voller Leidenschaft. Und mit einer Aufstellung, die durchaus überraschte. So stand der zuletzt noch gegen Borussia Dortmund überragende Thomas Müller etwa nicht in der Startelf. Tuchel setzte voll auf den Faktor Tempo, wollte die Tiefe bespielen. Das gelang ganz gut, aber es fehlte ein Zielspieler.
Einer, wie ihn City mit Erling Haaland besitzt. Der war bis zur 70. Minute kaum aufgefallen. Zwei Abschlüsse hatte er, aber sie wirkten überraschend überhastet. Dann aber war der Norweger da. Nach einem schweren Blackout von Münchens Dayot Upamecano, der ohnehin einen arg gebrauchten Abend erwischte, leitete Jack Grealish per Hacke auf Haaland weiter, der butterweich auf den langen Pfosten flankte, wo der kleine Bernardo Silva mit voller Wucht einköpfte (70.). Sechs Minuten später war die Sturmwucht selbst zur Stelle und drückte eine Kopfvorlage von John Stones über die Linie. Haaland erzielte im siebten Spiel seinen elften Treffer und feierte im achten Duell mit dem FC Bayern seinen ersten Sieg.
Hätte Musiala doch getroffen ...
Haaland machte dem FC Bayern an diesem Abend einmal mehr deutlich, was ihm fehlt: ein herausragender Mittelstürmer. In Abwesenheit des verletzten Eric-Maxim Choupo-Moting war der Strafraum eher Brachland. Die Abschlüsse der Münchner, von denen die UEFA-Statistik zwölf zählte, kamen nahezu allesamt aus der Distanz und zu zentral auf Keeper Ederson. Dabei hatte das Spiel durchaus einen "Was-wäre-wenn"-Moment, mit dem die Münchner haderten. Kurz vor dem 0:1 zog Jamal Musiala aus bester Position ab, aber Rúben Dias blockte den Ball mit einer monströsen Grätsche weg. Eine herausragende Aktion. Diese Citizens, die glänzen eben nicht nur mit ihrer Freude und Kreativität am Ball, sondern auch mit ihrer Leidenschaft fürs Abräumen. Eine ziemlich perfekte Symbiose, die Guardiola da in den vergangenen Jahren (mit sehr viel Geld) erschaffen hat. Der glückliche Coach befand hernach: "Wir haben fantastische Tore geschossen, es ist ein hervorragendes Ergebnis."
Wie dieses Giganten-Kollektiv zu knacken ist? Das ist nun die große Denkaufgabe für Tuchel und sein Team. Und in München glauben sie, dass nicht viel fehlt, um das Wunder bereits am kommenden Mittwoch möglich zu machen. Mehr Torgefahr, weniger Fehler. Klingt so einfach. Anknüpfen auch an die gute Leistung vor allem nach dem Seitenwechsel: "Die ersten 20 Minuten nach der Pause waren wir gut, haben uns aber nicht belohnt. Wir haben versucht, das Momentum auf unsere Seite zu ziehen." Joshua Kimmich befand: "Das ist brutal. Die ersten 60 Minuten waren sehr, sehr gut. Wir haben daran geglaubt, dass wir das Spiel drehen können. Wir haben heute gesehen, dass es möglich ist, mitzuhalten, dass es möglich ist, zu gewinnen. Das Vertrauen in die Mannschaft ist da, dass wir im Rückspiel was holen können."
Tuchel sieht den Schlüssel in der "Form". Schon Ende vergangener Woche hatte er angemahnt, dass sein Team nicht in der absoluten Top-Verfassung ist. Dabei hofft er darauf, dass manchen Spielern eine Aktion reicht, um die vermisste Selbstverständlichkeit wiederzuerlangen. Bei Leroy Sané hat das in den vergangenen Tagen schon ganz gut funktioniert, aber es braucht diesen Befreiungsschlag auch etwa bei Sadio Mané oder Serge Gnabry, der sich als Stoßstürmer aufrieb, aber im Schatten der City-Hünen selten Licht sah.
"Abgeschenkt wird nix"
Tuchel beschwor noch in der Kabine den Glauben daran, dass es gut werden wird. Manchester habe teilweise aus "nicht mal halben Torchancen" die Treffer erzielt, befand er. Sie selbst hätten mindestens ein Tor verdient gehabt und ein, zwei zu viel hergeschenkt. Aber weil seine Mannschaft eben ein so gutes Spiel gemacht habe, den Citizens einen ebenbürtigen Kampf lieferte, sei er nun "schockverliebt" in seine Mannschaft. Es habe Spaß gemacht, sie zu coachen. Und so versprach er: "Abgeschenkt wird nix."
Ein Blick in die Historie der Champions League kann dem FC Bayern zumindest ein wenig Hoffnung machen. Denn einen Rückstand von drei Toren haben auch schon andere Teams aufgeholt. Sensationell war etwa im Achtelfinale der Saison 2016/2017 das Rückspiel zwischen Paris Saint-Germain und dem FC Barcelona. Das Hinspiel in Paris hatte PSG mit 4:0 gewonnen - die Katalanen drehten die K.-o.-Runde durch ein 6:1 im Rückspiel. Im Halbfinale 2018/19 war der FC Liverpool nach dem 0:3 im Hinspiel beim FC Barcelona so gut wie raus, zog aber durch das 4:0 im Rückspiel im eigenen Stadion wieder ins Finale ein. In der Saison zuvor hatte die AS Rom im Viertelfinale einen Drei-Tore-Rückstand gegen Barcelona aufgeholt, damals auch dank der Auswärtstorregel.
"Ich habe schon Unglaubliches erlebt"
Aber nicht nur Tuchel beschwor den Geist von München. Im festlichen Ballroom des Clocktower Hotels zeigte auch der zuvor auf den Tribünen schwer gezeichnete Klubboss Oliver Kahn eindringlich seine legendäre "Weiter, weiter, immer weiter"-Mentalität. "Ich habe im Fußball schon Unglaubliches erlebt", sagte er. "Wir haben die Pflicht, in diesem Rückspiel nochmal alles, was möglich ist, reinzuwerfen." Und es bringe jetzt auch nichts, groß zu lamentieren und alles negativ zu sehen. "Wir haben die große Möglichkeit, deutscher Meister zu werden. Es ist alles sehr, sehr eng. Wir können es uns nicht erlauben, hier in Gedanken zu versinken. Wir müssen sofort am Samstag nachlegen."
Die im Ergebnis so krachende Pleite schmerzte - und war für die Bayern-Delegation bei Austern, Beef Wellington oder Quinoa-Power-Salat in der Nacht immer noch schwer zu fassen. Einerseits schnupperte man ja schon am Ausgleich. Andererseits hätte die Niederlage aber auch noch um ein, zwei Tore höher ausfallen können - was den sicheren Knockout bedeutet hätte. Der zwischenzeitlich vor allem im Spielaufbau verunsicherte Torwart Yann Sommer verhinderte mehrfach (noch) Schlimmeres. Das Spiel sei ein "bisschen eklig zu analysieren", sagte der spät eingewechselte Müller. Goretzka befand: "Wir werden draus lernen, aufstehen und im Rückspiel alles versuchen. Aber ist natürlich eine miserable Ausgangssituation."
Quelle: ntv.de