Fußball

Flick mit eindringlicher Mahnung Das Problem mit Kimmich und Goretzka

"Die ersten 30 Minuten waren ganz schlimm, die ersten 15 waren wir überhaupt nicht auf dem Platz", sagte Kapitän Joshua Kimmich.

"Die ersten 30 Minuten waren ganz schlimm, die ersten 15 waren wir überhaupt nicht auf dem Platz", sagte Kapitän Joshua Kimmich.

(Foto: IMAGO/ActionPictures)

Die deutsche Nationalmannschaft erlebt auf ihrer Mission Wiedergutmachung im zweiten Spiel nach der vergeigten WM eine grausame Halbzeit gegen Belgien. Der Bundestrainer mahnt eindringlich, dass es so etwas nicht mehr geben darf und muss sich selbst hinterfragen.

Je länger dieses Spiel dauerte, desto mehr wuchs der Glaube bei der deutschen Fußball-Nationalmannschaft, dass dieser phasenweise desaströse Abend doch noch zu einem (im Ergebnis) guten werden könne. Wie wilde Hummeln summten die Fußballer von Hansi Flick plötzlich über den Rasen des Kölner Stadions. Allen voran der Münchner Serge Gnabry war darum bemüht, seine schwache Form der vergangenen Wochen aus den Füßen zu laufen. Sechs Minuten vor dem Ende schlawienerte er einen Ball an den Pfosten, drei Minuten später setzte er eine feine Vorlage von Kevin Schade ins Tor, zum 2:3. So endete das EM-Vorbereitungsspiel gegen Belgien dann auch. Irgendwie noch okay im Ergebnis, irgendwie noch okay im letzten Eindruck, der ja bekanntlich bleibt.

Aber bei genauer Betrachtung ist die Milde im Urteil des "zweiten Schritts" heraus aus dem Wüstentreibsand nicht zu halten. Zu viel lief falsch an diesem Abend, der nicht nur weitere Versöhnung mit den Fans bringen sollte, sondern auch sportlich Mut machende Momente. Von denen dürfte auch Rudi Völler vom Krankenbett aus nicht allzu viele gesehen haben. Wegen einer Nierenkolik konnte der neue Verbindungsmann zwischen Nationalmannschaft und Volk nicht im Stadion sein. Wie einige Fans zunächst auch nicht. Ein Stau hatte sie aufgehalten, dieses Mal nicht ausgelöst durch Klima-Kleber, für die Völler ja nun kein Verständnis hat.

De Bruyne nutzt die deutschen Lücken eiskalt

Doch als die Fans die Tribünen füllten, der Stadionsprecher verkündete Mitte der zweiten Halbzeit "ausverkauft", da wären die ersten am liebsten schon wieder gegangen. Nach neun Minuten lag die Nationalmannschaft schon 0:2 hinten. Zweimal hatte der überragende Spielmacher Kevin De Bruyne die immensen Lücken im Mittelfeld um Leon Goretzka und Joshua Kimmich genutzt und erst Yannick Carrasco (6.) und dann Sturmwucht Romelu Lukaku (9.), an dessen wuchtigem Körper die deutschen Innenverteidiger mehrfach chancenlos abprallten, wundervoll freigespielt. Die beiden Offensivspieler veredelten äußerst selbstbewusst. Etwas, das dem DFB-Team seit Jahren immer schwerer vom Fuß geht. Die neue deutsche Nummer eins, Marc-André ter Stegen war machtlos.

Sollte es an diesem Abend in Köln je so etwas wie Begeisterung oder Euphorie gegeben haben, sie war spätestens jetzt aufgefressen. Von Roten Teufeln aus Belgien, die ihre ganz Kraft auf den Rasen brachten. "Es war ein Komplettversagen in den ersten 30 Minuten", staunte Deutschlands Chef-Analyst Lothar Matthäus und ließ es dann noch richtig krachen: "Was Deutschland da gespielt hat, war das Schlechteste, was ich eigentlich in meiner langen, langen Laufbahn fast schon gesehen habe." Flick wollte da später nicht widersprechen: "Wir waren zu passiv und haben den Gegner nicht unter Druck setzen können. Belgien hat es gnadenlos ausgespielt. Es muss einmalig bleiben, dass wir solche 25 Minuten gesehen haben."

Testspiel? Nicht mit den Männern von Domenico Tedesco. Fassungslos verfolgten die Zuschauer, wie das DFB-Team unterging. Wie es wehrlos war. Wie es staunend zusah, wie gut man (eine andere Mannschaft) eigentlich Fußballspielen kann. Wie es Lücke um Lücke offenbarte, die De Bruyne immer wieder sah und bespielte. Der Schockstarre seines Teams und der Fans war auch Flick verfallen. 32 Minuten brauchte er, um sich selbst zu korrigieren. Um Emre Can ins Spiel zu bringen, für den verletzten Leon Goretzka. Und den solide aufspielenden Wolfsburger Debütanten Felix Nmecha für Supertalent Florian Wirtz, der doch eigentlich das Gesicht dieser neuen, gierigen, mitreißenden Nationalmannschaft werden soll.

Wolf bekommt die Grenzen knallhart aufgezeigt

Von dem, was sie werden soll, war sie an diesem Abend arg weit entfernt. Um rechtzeitig im Ziel zu sein, um bei der Heim-EM im Sommer 2024 wieder ein Titelkandidat zu sein, müssen Deutschlands beste Fußballer in den kommenden Monaten einen beeindruckenden Zwischensprint hinlegen. Das gilt für alle Mannschaftsteile, außer den Torwart. War Marius Wolf nach seinem starken DFB-Debüt gegen Peru (2:0) schon verfrüht als Lösung für alle Probleme auf der rechten Abwehrseite gefeiert worden, so wurde er nur von Carrasco aus allen Höhen auf den Boden zurückgezerrt. Allerdings wurde er im Duell mit dem schnellen und trickreichen Spieler von Atlético Madrid viel zu oft alleine gelassen. Wolf reihte sich so nahtlos in ein Kollektiv ein, das viel sehr Arbeit vor sich weiß. In ein DFB-Kollektiv, das so nicht mehr zusammenkommen wird. Von den Daheimgebliebenen und wieder abgereisten (geschont oder verletzt) darf sich beinahe jeder als Gewinner fühlen.

Von jenen, die sich in Köln erst demütigen ließen und dann mit Leidenschaft in dieses Spiel bissen, dürfen nur Gnabry und der wieder einmal sehr bemühte Sturmchef Niclas Füllkrug - er traf per Elfmeter zum 1:2 (44.) - mit dem guten Gefühl abreisen, der Mannschaft wichtige Impulse gegeben zu haben. Und dann war da noch Emre Can. Gegen Peru hatte er beginnen dürfen und das Spiel an der Seite von Kimmich stabilisiert. Als klar defensiv ausgerichteter Sechser. Gegen Belgien saß er zunächst draußen, dafür rotierte Goretzka in seinem 50. Spiel für Deutschland in die Startelf. Ein taktischer Plan von Flick, der wieder einmal nicht aufging. Schon gegen Peru war das Spiel in dieser Konstellation unkontrollierter geworden. Schon bei der WM hatte er nicht funktioniert.

In ihrem Bemühen, der Mannschaft zu helfen, stürmten sie nach vorne, die Abstimmung passte nicht. Die beiden Münchner schafften vor allem fatake Lücken, nicht aber Stabilität. Hinzu kamen zig Fehler im Aufbau. Dieses Mal war es nicht nur unkontrolliert, sondern chaotisch oder auch "ganz schlimm", wie Kimmich befand. Das Zentrum war alles, aber kein Zentrum. "Die ersten 15 Minuten waren wir nicht auf dem Platz, sehr fehleranfällig, vor allem mit dem Ball, überhaupt nicht hungrig", fasste der Kapitän knallhart zusammen: "Das war nix!"

Belgiens Fans lachen vor Entzückung

Dass der Schaden im Ergebnis noch überschaubar war als Flick reagierte und neben dem verletzten Goretzka auch noch den ganz schwachen Wirtz vom Feld holte, lag auch daran, dass Lukaku den Ball einmal gegen die Latte geköpft hatte und der Herthaner Dodi Lukebakio auf seinem Monstersprint zu lange überlegen konnte, wie er den Ball im deutschen Gehäuse unterbringen würde. Er schoss schließlich vorbei. Auf den Tribünen wurde bereits gelacht. Hysterisch bei den deutschen Fans, vor Entzückung bei den Belgiern. Doch dann kam Can. Er grätschte, gab Kommandos. Der Kämpfer und Anführer riss mit seiner Körperlichkeit, seinem Willen und vor allem seiner Furchtlosigkeit die Teamkollegen nach und nach mit

Das Spiel kippte zwar nicht plötzlich. Aber der auferstandene Borusse bremste den drohenden Sturz in das Post-Katar-Fiasko merklich ab. Im Zentrum stand plötzlich ein Stoppschild. Und De Bruynes Freidrehen hatte vorerst ein Ende. Das DFB-Team schleppte sich zur Halbzeit, ehe Füllkrug die Chance zum Anschlusstreffer bekam, weil der Ball an Lukakus Hand gesprungen war. Er nutzte sie. Sechstes Tor im sechsten Länderspiel. Füllkrug ist derzeit unverzichtbar. Pause. Und wieder wummerten die lauten Technobässe durchs Stadion. Die Atmosphäre eher ein Rummel denn ein Fußballspiel. So war es auch vor Anpfiff gewesen. Clubbing statt Folklore. Welches Publikum der wieder volksnah werden wollende DFB damit ansprechen will? Warum nicht mehr Lokalkolorit? Warum die Menschen nicht damit abholen, womit sie sich in ihrer Heimat, in ihrem Stadion identifizieren?

"Super happy" ist Flick nicht

Und so gingen die Meinungen über die Stimmung im Stadion auch weit auseinander. Über eine erschreckende Ruhe wunderten sich einige, anderen feierten den fantastischen Support. Auch Flick bedankte sich dafür, dass das Publikum die Mannschaft getragen habe. Gelebte Volksnähe. Tatsächlich gab es zumindest keine Pfiffe. Nicht nach der katastrophalen ersten Hälfte. Nicht nach der zweiten Hälfte, in der das Bemühen unverkennbar war, in der die Balance stimmte, nur Aufwand und Ertrag nicht. "60, 65 Minuten war es von uns ein gutes Spiel", befand Flick und sah, dass es "nach der Systemumstellung und den Auswechslungen besser" wurde. "Die Leidenschaft hat uns noch einmal zurückgebracht." Mit Erkenntnissen im Gepäck, aber nicht "super happy" verabschiedet er sich nun, ehe es Mitte Juni den nächsten Lehrgang gibt.

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Eine Frage, die er für sich unbedingt beantworten muss: In welcher Konstellation lassen sich die Qualitäten von Kimmich und Goretzka am besten auf das Feld bringen? Als Doppel-Sechs nach aktuellem Wissen nicht. Es fehlt die defensive Ordnungsmacht. Mit Can kam sie. Er orchestrierte nicht nur das Spiel gegen den Ball erfolgreich, sondern coachte seine Nebenleute und eröffnete das Spiel immer wieder klug. Mit kleinen Sprints oder guten Verlagerungen. Und auf die Frage an Flick, ob das DFB-Team nicht einen Mann braucht, der die Rolle so klar definiert wie der Dortmunder. "Can war der aggressive Leader, den wir gebraucht haben. Er hat viele Zweikämpfe gewonnen, die Mannschaft wachgerüttelt. Die Verantwortung für die Defensive war da." Can und Kimmich, das habe fortan gut funktioniert, fand der Bundestrainer. Eine Verantwortung war da, die Flick sich auch vom Rest des Teams wünscht. "Da wird sich noch viel zu wenig unterstützt, wir können uns das einfacher machen."

Je länger das Spiel dauerte, desto mehr verstand das DFB-Team das. Zur Wahrheit in der leidenschaftlichen Schlussphase gehört allerdings auch: De Bruyne war da nicht mehr auf dem Platz. Und damit der Spieler, der Deutschland schonungslos alle Schwächen offengelegt hatte.

Quelle: ntv.de

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