Angst vor dem brutalen Märchen Wird die deutsche Nationalmannschaft überschätzt?
30.12.2023, 07:02 Uhr
Sie wollen im Sommer 2024 ein großes Fußballfest mit und in Deutschland feiern: Rudi Völler (l.) und Julian Nagelsmann.
(Foto: IMAGO/Eibner)
Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft kommt einfach nicht auf die Beine. Auf jeden Versuch, aufrechte Schritte zu gehen, folgt der nächste Sturz. Für das kommende Jahr macht das kaum Hoffnung. Dabei muss alles besser werden. Aber wie eigentlich?
Ein Sommermärchen soll her. Das hat Rudi Völler gesagt. Er hat es quasi angeordnet. Und "Tante Käthe" darf das, sie (also er) ist der wichtigste Verbindungsmann zwischen der deutschen Fußball-Nationalmannschaft und deren Anhängern, die in den vergangenen Jahren immer weniger geworden sind. Dabei soll 2024 alles so schön werden wie 2006. Deutschland nahm die Welt mit offenen Armen in Empfang und lag sich selbst beseelt jenen. Doch die Zeiten waren andere, die Welt nicht in Aufruhr wie Ende 2023. Alles war in unbeschwerter. Zumindest in den hiesigen Gefilden. Der Hindukusch und der Irak waren weit weg, auch emotional. Anders als die Ukraine und Israel und Gaza heute. Und so liegt dem Turnier im Sommer, der Heim-EM, auch der Wunsch inne, dass der Fußball undDeutschland eine heilende Kraft für die Menschen und die angegriffenen Demokratien entfacht.
Das ist ein ganz schön schwerer Rucksack, der da gepackt wird. Getragen werden muss er von den Fußballern mit dem Adler auf der Brust. Die allerdings brauchen selbst dringend mal wieder Heilung. Sie waren unter der Last der Erwartungen im November abermals zusammengesackt. Von einem aufrechten, ja stolzen Gang sind sie nach den phasenweise erschreckenden Auftritten gegen die Türkei und gegen Österreich meilenweit entfernt. Die Nationalmannschaft ist ein kranker, gebückter Mann, auf den auch noch von allen Seiten eingedroschen wird. Sogar von Leuten aus dem eigenen Verband.
So war DFB-Vizepräsident Ralph-Uwe Schaffert nach den Weihnachtstagen wie ein wilder Stier über die Spieler hergetrampelt, hatte sich etwa Joshua Kimmich und İlkay Gündoğan vorgeknöpft und einen "radikalen" Wechsel des Personals angeregt. Ein weiterer Brandherd. Wo es Löschwasser gebraucht hätte, griff der Niedersachse zum Öl. Dieser Ausbruch kam nicht gut an, von Völler gab es ein amtliches Echo. Der Mann, der das Sommermärchen wie vielleicht kein zweiter herbeisehnt, schwang sich abermals zum ersten Beschützer der Mannschaft auf.
"Egal was es ist, es muss behoben werden"
Aber was ist das eigentlich für eine Mannschaft? Wer soll verstehen, was mit ihr los ist, wenn es nicht mal die Spieler wissen? "Ehrlich, ich verstehe manchmal auch nicht, was mit uns passiert, wenn wir das DFB-Trikot überstreifen", staunte zuletzt Antonio Rüdiger: "In den Vereinen liefern ja eigentlich alle ganz ordentliche Leistungen ab. "Doch für tiefe Ursachenforschung bleibt keine Zeit. In einem halben Jahr muss schließlich das von höchster Stelle angeordnete Erfolgserlebnis gelingen. Und bis dahin die Nation als 12. Mann hinter das Team gebracht werden. Rüdiger, ein Kandidat für die weiter vakante Rolle des Abwehrchefs, sagte den 11Freunden: "Egal was es ist, es muss behoben werden. Wir haben eine Heim-EM." Es gilt das Prinzip: Finde den Fehler! Wie bei einem Suchbild im Rätselheft. Nur gibt es dort eine garantierte Lösung.
Verstanden, was die Jahresuhr nun schlägt, hat Bundestrainer Julian Nagelsmann. Der war Mitte Dezember ins Sportstudio geschlendert, um der Fußball-Nation dann große Worte und Ankündigungen zu senden. Kimmich, der Antreiber im zentralen Mittelfeld, wird wohl versetzt. Nach rechts hinten, eine zermürbende Dauer-Debatte im Land würde damit beendet. Denn das Stimmungspendel war klar zu einer Versetzung ausgeschlagen. Und auch Gündoğan wird verschoben. Aber nicht ganz so extrem wie Kimmich. Der Kapitän der Nationalmannschaft soll in der Zentrale bleiben, aber offensiver agieren. Nagelsmann erhofft sich davon so großartige Impulse von Gündoğan, wie der sie einst bei Manchester City geliefert hatte.
Ob das alles taugt, um mehr Optimismus zu erzeugen? Bislang gibt es keine Umfrage, die diesen Trend abgefragt hat. Allzu sollte man nicht darauf geben, dass bloße Ankündigungen den Wind drehen lassen. Aber zumindest für das Binnenklima taugen die Worte des Trainers, um einen kleinen Hurrikane zu verursachen. Denn kein Spieler darf sich seiner Sache mehr sicher sein. Außer natürlich Manuel Neuer, der als Nummer eins ins Tor zurückkehrt, wenn Deutschland im März Frankreich und die Niederlande herausfordert. Zu viel ist in den vergangenen Jahren zerbrochen, als dass ein neuer Coach mit ein bisschen Zuckerbrot, für Spieler wie Robert Andrich, Grischa Prömel oder Pascal Groß, und Peitsche, für formschwache Stars, als Blitz-Kitt für all die Scherben dient, die die beiden Ex-Bundestrainer Joachim Löw und Hansi Flick hinterlassen haben.
Für Nagelsmann zählt nur das nächste halbe Jahr
Der entrückte Löw mit seiner Beratungsresistenz und Flick mit seinen verzweifelten Experimenten. Diese Zeiten sollten eigentlich endgültig vorbei sein, aber Pustekuchen. Nagelsmann kassiert alles Bisherige ein und würfelt neu. Er geht damit voll ins Risiko. Aber was hat er eigentlich zu verlieren? Von einem stattlichen Gebilde, das lediglich ein paar Stabilisierungsmaßnahmen braucht, um den tobenden Unwettern um sie herum zu trotzen, ist die DFB-Elf meilenweit entfernt. Eine gut funktionierende (oder überhaupt eine) Achse gibt es nicht, die Hierarchie ist von den Stürmen der vergangenen Jahre (seit dem Russland-Debakel 2018), sprich schlechten Ergebnissen und Experimenten, in alle Richtung verweht worden. Vielleicht war der Zeitpunkt selten günstiger, alles auf null zu stellen. Nagelsmann muss nicht die mittel- oder langfristige Zukunft im Blick haben. Er kann seine Arbeit voll auf das nächste halbe Jahr ausrichten. Danach, so der aktuelle Stand, endet seine Zeit beim Verband.
Nagelsmann muss sich also nicht überlegen, was nach Mats Hummels und Thomas Müller kommt. Er muss sich keine Gedanken machen, ob Toni Kroos, wenn er denn tatsächlich zurückkehrt, nach der EM noch eine Rolle im DFB-Team spielt. Er muss keinen Plan für die WM 2026 im Hinterkopf haben. Aber dieses Szenario der absolut freien Hand hat auch einen großen Haken. Egal was der Trainer plant, es sollte funktionieren. Auch für seinen weiteren Weg. Denn mit der gewaltigen Hypothek, weder beim FC Bayern München (seine Zeit endete über drei Jahre früher als geplant), noch bei der Nationalmannschaft (vermutlich muss mindestens das Viertelfinale, eher das Halbfinale her) das erreicht zu haben, was hätte erreicht werden sollen, würde er bei der Suche nach einer neuen Herausforderung vom gehypten Trainertalent ein paar Regelfächer nach unten purzeln.
Führung, Kommunikation, Emotion
Was also muss passieren, damit sich diese Mannschaft fängt, damit diese Mannschaft das Potenzial abruft, was ihr zugeschrieben wird? Was womöglich überschätzt wird? Die Antwort darauf ist schwer verdaulich. Es braucht defensiv mehr Stabilität und offensiv einen klaren Plan. Kurzum: Diese Mannschaft muss überall besser werden, deutlich besser. Sie braucht Führung, klare Aufgaben, Kommunikation und mehr Emotionen. Die hatte der Coach zuletzt vermisst und das klar zum Ausdruck gebracht. Die Operation an der Mannschaft ist für das Trainerteam eine Welt-Aufgabe. Zu lösen in wenigen gemeinsamen Einheiten und nur als Kollektiv.
Während Frankreich mit Kylian Mbappé oder England mit Harry Kane Spieler hat, die Gurkenauftritte mit einer Aktion retten können, fehlt es Deutschland (noch) an dieser Top-Qualität. Für große Momente können die Top-Talente Jamal Musiala, Florian Wirtz oder aber der in dieser Saison starke Flügelstürmer Leroy Sané sorgen. Noch aber nicht mit der gefühlten Selbstverständlichkeit der Weltstars, die sich auch in den Köpfen der Gegenspieler längst festgesetzt hat.
Wo ist die Weltklasse?
Wie viele Weltstars hat die deutsche Mannschaft? Manuel Neuer, wenn er in seiner besten Form ist. Ob er die nach seiner schweren Verletzung aber erreicht? Gündoğan, wenn er spielt wie in England, was er beim FC Barcelona aber nicht tut. Und sonst? Viel Talent, großes Talent, klar, aber eben auch (zu?) viele Spieler, die bestenfalls gehobenes Bundesliga-Niveau haben oder ihre Fähigkeiten nicht (mehr) zur Gänze ausreizen. So unterschiedlich die Gründe auch sein mögen. Ein Serge Gnabry ist hier zu nennen und oft genug auch ein Kai Havertz. Oder als Extremfall natürlich Timo Werner.
Am deutlichsten offenbart sich das auf den bekannten Problempositionen im Sturmzentrum, wo der unermüdliche Fan-Liebling Niclas Füllkrug einen guten Job macht, aber eben kein Unterschiedsspieler auf dem höchstem Niveau ist. Und auch die potenziellen Kandidaten wie Marvin Ducksch oder Kevin Behrens taugen nicht als Strafraum-Messias(se). Links hinten sieht es nicht viel besser aus, dort könnte David Raum der Mann der Wahl sein. Und in der Innenverteidigung? Hat sich seit Mats Hummels und Jérôme Boateng kein Duo gefunden, was nachhaltig stabil agiert. Ist das Potenzial wirklich so groß, wie man beim DFB und in der Mannschaft findet? Oder sind womöglich demnächst drei Trainer ohne Lösung und Erfolgsrezept ein Indiz dafür, dass Wahrheit und Wahrnehmung weit auseinanderklaffen?
Die Suche nach Halt und Haltung
Bis Ende März muss Nagelsmann nun einen Plan ertüfteln, der funktioniert. Dann gibt es die knallharten Proben, Frankreich und die Niederlande warten. Für den Trainer wird das eine gigantische Aufgabe, vielleicht die gigantischste seiner Laufbahn. Er muss etwas erarbeiten, was er seiner Mannschaft in kürzester Zeit vermitteln kann. Über ihm schwebt der Schatten des Ein-Spiel-Rückkehrers Völler, der das Vakuum zwischen Flick und Nagelsmann mit einem 2:1-Sieg gegen die Franzosen füllte und damit ein Geht-doch-Gefühl weckte, auch wenn der Gegner nicht sonderlich viel Gegenwehr auf den Platz gebracht hatte.
Und über ihm schwebt der Schatten der eigenen Idee. Sein Fußball gilt als höchst anspruchsvoll. Manche behaupten, er könne überfordernd sein. Aus dem Team hieß es bisher, dass dies nicht der Fall sei. Aber als Nagelsmann etwa erklärt hatte, wie Kai Havertz die Rolle als linker Verteidiger interpretieren sollte, da verstand die Fußball-Nation nur Bahnhof. Dem 36-Jährigen war danach alles um die Ohren geflogen. Die Experten im Land redeten sich in Rage und ließen sich nicht mehr beruhigen. Selbst der Stadionbesuch mit Freundin Lena wurde zum Eklat-Thema hochgejazzt.
Die Spielweise der Nationalmannschaft, hatte Nagelsmann bei seinem Amtsantritt derweil gesagt, werde "nicht so komplex wie im Vereinsfußball sein". Vielmehr sei sie darauf ausgelegt, "den Spielern Halt zu geben". Bislang stolpern diese aber weiter durch die vielleicht längst Krise des DFB-Teams, flankiert von einem dauerkriselnden Verband, der bei großen Themen weiter nach Haltung sucht (WM-Vergabe nach Saudi-Arabien ist das Stichwort) und sich von innen heraus weiter verlässlich selbst anzündet, wie die "Süddeutsche Zeitung" zur Schaffert'schen Abrechnung schrieb. Der Weg zum Sommermärchen ist lang und womöglich basiert der Wunsch auf einer völlig falschen Annahme: Denn Märchen enden nicht selten brutal und tragisch.
Quelle: ntv.de