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Atlantikströmung schwächelt Wie berechtigt sind die Warnungen vor dem Klima-Kollaps?

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Wellen schlagen an die Atlantikküste: Es mehren sich die Anzeichen, dass sich die Atlantikströmungen einem Kipppunkt nähern.

Wellen schlagen an die Atlantikküste: Es mehren sich die Anzeichen, dass sich die Atlantikströmungen einem Kipppunkt nähern.

(Foto: picture alliance / Zoonar)

Verschiedene Meeresströmungen regulieren das Klima auf der Erde. Doch was, wenn dieses komplexe System zusammenbricht? Manche Forscher warnen: Durch den Klimawandel könnte dieser Moment früher eintreten, als erwartet. Doch es gibt auch Widerspruch.

Die Winter in Mitteleuropa sind in der Regel kalt - aber nicht zu eisig. Die Sommer sind warm - aber nicht zu heiß oder zu trocken. Es ist ein Klima, das ein Leben in Wohlstand ermöglicht hat. Und dass es sich in der Region so gut leben lässt, ist kein Zufall. Die sogenannte atlantische Umwälzbewegung (Atlantic Meridional Overturning Circulation, AMOC) befördert wie eine natürliche Zentralheizung warmes Wasser aus den Tropen nach Norden und sorgt auch in unseren Breitengraden für ein ausgewogenes und mildes Klima.

Doch Forschende befürchten schon seit Jahrzehnten, dass sich die Strömungsbewegungen unter dem Einfluss des Klimawandels verändern und das System eines Tages sogar kollabieren könnte. Eine neue Studie aus den Niederlanden, die im Wissenschaftsmagazin "Science Advances" veröffentlicht wurde, hat dieser These nun erneut Gewicht verliehen und damit weltweit Aufsehen erregt.

Kippt das Klima oder kippt es nicht?

In dem Papier schildert das Team rund um René van Westen von der Universität Utrecht nicht nur ein erschütterndes Szenario dessen, was passiert, wenn die Atlantikzirkulation versiegt. Anhand von Messdaten kommen die Forschenden außerdem zu dem Schluss, dass sich das System bereits "auf Kippkurs" befinde.

Wird der Kipppunkt überschritten, kommt die AMOC laut den Modellrechnungen in weniger als 100 Jahren vollständig zum Erliegen. Das würde zu einer schlagartigen Veränderung des Weltklimas führen. Für Nordeuropa sagt das Modell etwa einen Temperatursturz von zwei bis drei Grad pro Jahrzehnt voraus. Es wäre wohl der Beginn einer neuen Eiszeit, während sich die Erderwärmung in anderen Teilen der Welt verstärken würde. "Keine realistischen Anpassungsmaßnahmen können mit solch schnellen Temperaturveränderungen umgehen", heißt es in der Studie.

Das klingt alles höchst beunruhigend. Doch wie wahrscheinlich ist es, dass so ein Szenario in absehbarer Zeit eintritt? Bislang lautete die Antwort des Weltklimarats und weiten Teilen der Klimaforschung stets, dass ein Zusammenbruch der AMOC in diesem Jahrhundert wenig wahrscheinlich sei. Erst im vergangenen Jahr scherte eine Studie aus Dänemark aus und sorgte für aufgeregte Schlagzeilen: Demnach könnte die Atlantikströmungen ihren Kipppunkt durchaus schon zwischen 2025 und 2095 erreichen. Es war die bisher erste und einzige Studie mit diesem Ergebnis - und dementsprechend sehr umstritten.

Die neue Studie aus den Niederlanden verzichtet hingegen auf derartige Prognosen - die Datenlage reiche dafür nicht aus. Ihre Methodik und Ergebnisse haben die Diskussion über einen drohenden Klimakollaps dennoch erneut befeuert. Um den aktuellen Stand der Forschung besser zu verstehen, braucht es etwas Kontext.

Die AMOC gilt als Kippelement im Klimasystem

Die Atlantikzirkulation AMOC gilt als ein sogenanntes Kippelement im globalen Klimasystem. Auf den ersten Blick wirkt es stabil und scheint nur träge auf den Klimawandel zu reagieren. Doch das kann sich schlagartig ändern, sobald ein gewisser Punkt überschritten wird.

Anders als der Golfstrom, der zwar ebenfalls ein Teil des atlantischen Strömungssystems ist, aber in erster Linie von Winden und der Erdrotation angetrieben wird, resultiert die Umwälzbewegung aus einem fein abgestimmten Wechselspiel von Temperatur, Salzgehalt und Dichte der Wassermassen.

Schaubild der Atlantischen Umwälzzirkulation (AMOC)

Schaubild der Atlantischen Umwälzzirkulation (AMOC)

(Foto: NOAA/Natural Earth/ntv.de, lst)

Wie ein riesiges, flüssiges Förderband transportiert sie warmes, sehr salzhaltiges Wasser aus den Tropen in Richtung Polarkreis. Ein Teil davon verdunstet auf dem Weg, wodurch sich der Salzgehalt des verbliebenen Wassers zusätzlich erhöht. Nahe Grönland hat sich das Wasser so stark abgekühlt, dass es durch die hohe Dichte absinkt. Das Wasser in den tiefer liegenden Schichten wird verdrängt und beginnt nah am Meeresboden die Rückreise gen Süden. Auf dem Weg erwärmen sich die Wassermassen, drängen zurück an die Oberfläche und der Kreislauf beginnt von Neuem. Die daraus resultierenden Strömungen transportieren Nährstoffe und Wärme in die verschiedenen Regionen der Welt.

Doch verstärkte Niederschläge und Eisschmelze durch den Klimawandel gießen immer mehr Süßwasser ins System. Die geringere Dichte des Frischwassers hindert Salzwasser am Absinken und schwächt so die Antriebskräfte, die das Förderband bisher am Laufen halten. Irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem sich dieser Prozess nicht mehr aufhalten oder umkehren lässt. Das System kippt - wie eine Kaffeetasse, die zu weit über die Tischkante geschoben wurde.

Die schwierige Suche nach dem Kipppunkt

Dass die AMOC einen Kipppunkt hat, wurde im Prinzip schon 1961 von einem Pionier der physikalischen Ozeanographie, Henry Stommel, angenommen. Inzwischen geht man davon aus, dass die Klimavergangenheit der Erde bereits mehrfach von Ereignissen geprägt war, in denen die Strömungssysteme des Atlantiks durch starke Frischwasserzufuhr quasi "ausgeschaltet" wurden - etwa am Ende von Eiszeiten. Der letzte AMOC-Zusammenbruch ereignete sich demnach vor etwa 12.000 Jahren.

Nun lässt der Klimawandel Forscherinnen und Forscher nach Warnsignalen Ausschau halten, ob so etwas wieder passieren könnte - und sie werden fündig. Seit den 1950ern habe sich die Strömungsstärke um 15 Prozent abgeschwächt und dadurch den schwächsten Zustand seit mindestens einem Jahrtausend erreicht, so die Schätzung einer Studie von 2021.

Doch ob Veränderungen in Varianz und Stärke der Strömung bereits ausreichen, um einen drohenden Kipppunkt näher zu bestimmen, ist fraglich. Jeffrey Kargel, leitender Forscher am Planetary Science Institute in Arizona zieht für das britische Science Media Center einen Vergleich zur Börse heran: Auch dort können Turbulenzen einen drohenden Crash ankündigen. Aber: "Niemand weiß genau, ob es sich um eine umkehrbare Fluktuation oder einen Vorboten des Zusammenbruchs handelt", erklärt er. Er vermute deshalb, dass die Frage nach dem unmittelbaren Risiko eines Klima-Kipppunktes weiterhin umstritten bleiben wird - "bis zu dem Jahr, in dem wir wissen, dass es passiert".

KlimawandelMeeresoberflächentemperatur

Modellrechnungen müssen Datenlücken stopfen

Ein weiteres Problem: Die AMOC ist so ein riesiges System, dass ein Wassertropfen Hunderte von Jahre braucht, um durch den Ozean zu wandern. Daten zur Stabilität der AMOC werden aber erst seit 2004 durchgehend erfasst. Es liegen also bei Weitem nicht genug Messwerte vor, um danach beurteilen zu können, wie sehr sich das System unter dem Einfluss des Klimawandels verändert hat.

Forschende greifen deshalb auf sogenannte Proxydaten und Computermodelle zurück. In früheren Simulationen wurde bereits versucht herauszufinden, wie viel arktisches Schmelzwasser wohl in den Atlantik "gekippt" werden müsste, um das Gleichgewicht der AMOC nachhaltig zu stören.

Allerdings neigen diese Modellrechnungen dazu, die Stabilität der AMOC systematisch zu überschätzen. Um einen virtuellen Kollaps herbeizuführen, müssen daher unrealistisch hohe Mengen an Süßwasser eingegeben werden - mehr als die heutige Grönlandeisschmelze überhaupt verursacht. Auch deshalb kommen viele Forschende immer wieder zu dem Schluss, dass ein baldiger Zusammenbruch der Atlantikzirkulation wohl eher unwahrscheinlich sei.

In dem Versuch, die Lücke zwischen Simulation und Wirklichkeit zu überbrücken, hat sich das Team aus den Niederlanden nun einen neuen, extrem zeitaufwendigen und kostspieligen Ansatz überlegt. Dabei kam erstmals auch ein hochmodernes und komplexes Klimamodell zum Einsatz, das die Wechselwirkungen von Ozean, Meereis und Atmosphäre berücksichtigt. Die Berechnungen wurden in einer Supercomputer-Einrichtung in den Niederlanden durchgeführt und nahmen mehrere Monate in Anspruch.

Dem Forschungsteam gelingt eine Premiere

Bisher wurde oft angezweifelt, ob der AMOC-Kollaps in einem solch komplexen Versuchsaufbau überhaupt nachgewiesen werden kann. Doch das Experiment gelang: Während die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Süßwasserzufuhr langsam und über einen sehr langen Zeitraum hinweg erhöhten, konnten sie tatsächlich beobachten, wie sich die Atlantikzirkulation in dem Modell zunächst allmählich abschwächte - und dann plötzlich zusammenbrach. Schon ein langsamer Rückgang des Salzgehalts könnte demnach in weniger als 100 Jahren zu einem plötzlichen Kollaps führen.

Die Simulation hilft dabei, die Prozesse vor und nach dem Kipppunkt besser zu verstehen. Um die Ergebnisse in die echte Welt zu übertragen, suchte das Team in den Modelldaten nach Frühwarnsignalen, die einen drohenden Zusammenbruch ankündigen könnten. Das größte Potenzial, den Zustand der AMOC zu bestimmen, haben demnach Messdaten zum Süßwassertransport im südlichen Atlantik. Ein Abgleich mit den realen Daten zeigt: Dieser Indikator deutet tatsächlich auf eine Destabilisierung des Strömungskreislaufs hin. Doch ob dieser Trend anhält und ob er tatsächlich zum vermuteten Kipppunkt führt, können die Forscher nicht voraussagen.

Robert Marsh, Professor für Ozeanographie und Klimaforschung an der Universität in Southampton ist sichtlich angetan von der Methodik der Niederländer: Anders als in früheren Simulationen werde der Kipppunkt in dieser Studie nämlich "durch die subtilen Wechselwirkungen zwischen Ozean, Atmosphäre und Eis" heraufbeschworen und schließlich ausgelöst "durch eine Frischwasserzufuhr, die eine kaum wahrzunehmende Schwelle überschreitet - statt durch eine plötzliche und unrealistische Flutung des Nordatlantiks", sagt er.

Ein Zusammenbruch hätte fatale Folgen

Auch Stefan Rahmstorf vom Potsdam Institut für Klimafolgenforschung (PIK) feiert die Ergebnisse als Durchbruch. Seiner Ansicht nach wurden die Gefahren eines drohenden Kipppunkts lange Zeit unterschätzt. "Insgesamt trägt die neue Studie erheblich zur wachsenden Besorgnis über einen AMOC-Zusammenbruch in nicht allzu ferner Zukunft bei", schreibt er und drängt auf ein schnelles und entschlossenes Handeln im Kampf gegen den Klimawandel. Die entscheidende Frage sei nicht, ob und wann die Atlantikströmung tatsächlich kippt. "Es geht darum, dass wir dies mit einer Wahrscheinlichkeit von 99,9 % ausschließen müssen", so Rahmstorf.

Die Folgen eines AMOC-Kollaps wären für die Menschheit in der Tat mehr als unangenehm. Laut dem jüngst publizierten Modellszenario der Universität Utrecht würde der Meeresspiegel sehr schnell um bis zu einem Meter steigen. Extreme Kältewellen mit zweistelligen Minusgraden würden regelmäßig bis in den zentralen Nordatlantik und den Mittelmeerraum vordringen. In Skandinavien und Mitteleuropa wäre Landwirtschaft vielerorts schwer bis unmöglich. Viele heute bewohnte Gebirgstäler würden wieder dauerhaft vereisen. Durch die dramatisch sinkenden Temperaturen würden auch die Niederschläge vor allem auf dem europäischen Festland stark abnehmen.

Auf der Südhalbkugel könnte unterdessen der Regenwald seinen eigenen Kipppunkt erreichen, wenn sich Regen- und Trockenzeit im Amazonas wie befürchtet umkehren. In der Klimaforschung spricht man von sogenannten Kaskaden-Effekten, wenn das Kippen eines Klima-Elements auch andere ins Wanken bringt.

Noch bleibt Zeit zum Handeln

Wer solche regelrechten Horrorszenarien beschreibt, kann mit viel Aufmerksamkeit rechnen - aber auch mit Gegenwind. Die Versuchung ist schließlich groß, solche Studien als unseriös und alarmistisch abzutun. "Außergewöhnliche Behauptungen verlangen nach außergewöhnlichen Beweisen", forderte einst auch der Schriftsteller und Wissenschaftler Carl Sagan. Im Fall der Klima-Kipppunkte führt dieser Anspruch jedoch zu dem von Jeffery Kargel angedeuteten Dilemma: In dem Moment, in dem man dabei zusehen kann, wie das System kippt, nimmt die Katastrophe bereits ihren Lauf.

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Umso wichtiger bleibt vorerst die Suche nach Indizien und Warnsignalen. Tatsächlich mehren sich die Anzeichen einer AMOC-Schwäche nun schon seit Jahren - und das an ganz verschiedenen Stellen des Klimasystems, vom Nordatlantik bis in die Antarktis. Wahr ist aber auch: Längst nicht alle Forschenden sind überzeugt, dass ein Zusammenbruch dadurch wahrscheinlicher geworden ist oder zeitlich näher rückt.

Andrew Watson von der University of Exeter etwa verweist im Zusammenhang mit der niederländischen Studie darauf, dass die Autoren die Atlantikzirkulation zwar "auf dem Weg" zum Kipppunkt sehen. Dieser Weg könne aber immer noch lang sein, sodass genug Zeit bleibe, "um ihn zu ändern".

Denn dass die Folgen eines AMOC-Kollaps dramatisch wären, stellt in der Klimaforschung kaum jemand infrage. Weitgehend unstrittig ist auch, dass der menschengemachte Klimawandel das globale Strömungssystem verändert. Letztendlich hat es die Menschheit also selbst in der Hand: Sie kann - und wird voraussichtlich - noch sehr viel Zeit darauf verwenden, mehr über die Zusammenhänge herauszufinden. Doch während die Wissenschaft nach Antworten forscht, liegt es an allen, diese Zeit nicht ungenutzt verstreichen zu lassen.

Mitarbeit: Laura Kranich (wetter.de)

Quelle: ntv.de

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