Golfstrom vor dem Kollaps? Für Klima-Studie hagelt es Kritik
26.07.2023, 17:30 Uhr Artikel anhören
Der Golfstrom transportiert mehr Wasser als alle Flüsse der Erde zusammen.
(Foto: picture alliance / blickwinkel/P. Frischknecht)
Der Golfstrom ist die Heizung Europas. Doch angesichts des Klimawandels schwächt er sich immer weiter ab. Eine neue Studie warnt jetzt sogar: Die Meeresströmung könnte schon in wenigen Jahren kollabieren. Einige Experten sind jedoch anderer Meinung. Wer hat recht?
Eisschollen in der Nordsee, karge Landschaften statt grüner Wiesen in Bayern und sibirisches Klima in Hamburg und Berlin: So würde Deutschland ohne den Golfstrom aussehen. Denn die Meeresströmung ist eine Art Wärmepumpe für Mittel- und Nordeuropa. Seit Jahrzehnten gibt es jedoch Befürchtungen, dass der Golfstrom als Folge des globalen Klimawandels versiegen könnte. Dänische Forschende warten jetzt sogar mit einer Hiobsbotschaft auf: Der Kollaps stünde kurz bevor, möglicherweise schon in zwei Jahren. Experten haben allerdings ihre Zweifel.
Der Golfstrom ist ein Teil der Atlantischen Umwälzzirkulation (engl. Atlantic Meridional Overturning Circulation - AMOC), welche den Atlantischen Ozean durchzieht. An der Wasseroberfläche wird warmes, salzhaltiges Wasser aus der Karibik bis nach Nordnorwegen transportiert. In mehreren Kilometern Tiefe strömt kaltes, salzärmeres Wasser in die entgegengesetzte Richtung. Ohne diese Wärmezufuhr wäre es in weiten Teilen Europas fünf bis zehn Grad kälter. Ein Zusammenbruch hätte darüber hinaus schwerwiegende Auswirkungen auf das Klima auf der ganzen Welt.
Mit der Frage, ob der Golfstrom tatsächlich kollabieren könnte, beschäftigen sich Fachleute bereits lange. Eine eindeutige Antwort gibt es bisher nicht. Der Zustand der Meeresströmung ist nur schwer messbar. Daten dazu gibt es erst seit zwanzig Jahren. Der Weltklimarat (IPCC) ist sich jedoch sicher, dass zumindest im 21. Jahrhundert kein abrupter Zusammenbruch zu befürchten ist, wie es im jüngsten Sachstandsbericht heißt. Dem widerspricht nun die neue dänische Studie, die in der Fachzeitschrift "Nature Communications" erschienen ist: Bei anhaltenden Treibhausgasemissionen könnte die Strömung um die Mitte des Jahrhunderts, möglicherweise sogar jederzeit ab 2025, kollabieren.
"Studie steht auf tönernen Füßen"
Für ihre Studie analysierte das dänische Forschungsduo Peter und Susanne Ditlevsen Daten zur Oberflächentemperatur des Nordatlantik zwischen 1879 und 2020. Dabei suchten sie nach möglichen Frühwarnsystemen. Das Ergebnis: "Mit 95-prozentiger Wahrscheinlichkeit" komme die Strömung "im Zeitraum von 2025 bis 2095" zum Erliegen, resümieren die beiden Forschenden. Am wahrscheinlichsten soll es im Jahr 2057 soweit sein.
Klimaexpertinnen und -experten scheinen sich zwar einig, dass die globale Erderwärmung auch das Strömungssystem beeinflusst und die AMOC sich immer weiter abschwächt. Die dramatischen Prognosen von Peter und Susanne Ditlevsen halten viele für übertrieben, wenn nicht sogar falsch. "Es ist bereits bekannt, dass die AMOC langsamer geworden ist und sich ihrem Kipppunkt genähert hat", sagt Niklas Boers vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK). Die Autoren hätten sich aber "zu weit aus dem Fenster gelehnt und die relevanten Unsicherheiten nicht genug berücksichtigt", so Boers. "Diese Unsicherheiten sind so groß, dass man auf Grundlage der Analyse historischer Daten keine Aussage zum Zeitpunkt des Kippens treffen kann."
Auch Jochem Marotzke vom Max-Planck-Institut für Meteorologie hält die methodische Annahme für unangemessen, aus den Veränderungen eines Parameters, nämlich der gemessenen Meerestemperatur, auf plötzliche Veränderungen des gesamten Systems zu schließen. "Die in der nun erscheinenden Studie so zuversichtlich vorgetragene Aussage, es werde im 21. Jahrhundert zum Kollaps der AMOC kommen, steht auf tönernen Füßen", sagt der Meeresforscher. Die Interpretation verlasse sich in enormem Ausmaß darauf, dass das theoretische Verständnis der Autoren korrekt sei - "und daran sind riesige Zweifel angebracht".
Und auch Johanna Baehr von der Universität Hamburg schließt sich der Kritik an: Der alleinige Fokus auf die Oberflächentemperatur des Nordatlantik werde "der Komplexität des Klimasystems in vielerlei Hinsicht nicht gerecht." Zudem betont sie, dass es bereits genug Ereignisse gebe, die die Auswirkungen des menschengemachten Klimawandels zeigten. "Eine solche rein mathematische Analyse, die die physikalische Perspektive ausblendet, braucht es zur Dramatisierung nicht." Ein abrupter Zusammenbruch der AMOC sei in absehbarer Zeit nicht zu erwarten.
Warnungen ernst nehmen
Trotz der Kritik reiht sich die Studie in frühere Arbeiten zum Golfstromsystem ein. Und sie komme auch zu ähnlichen Schlussfolgerungen, sagt Stefan Rahmstorf vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. Es bestehe immer noch große Unsicherheit darüber, wo der Kipppunkt der AMOC liegt, so der Klimaforscher. "Aber die neue Studie ergänzt Evidenz dafür, dass er viel näher ist, als wir noch vor ein paar Jahren dachten."
Auch Gerrit Lohmann vom Alfred-Wegener-Institut (AWI) äußert sich wohlwollender. Zwar findet er es ebenfalls problematisch, "die AMOC allein aus der Oberflächentemperatur in einer Region zu rekonstruieren". Aber: Die Methodik sei sehr ausgereift, nachvollziehbar und auch sehr interessant, betont Lohmann. Die aktuelle Studie sei "an manchen Stellen nicht sorgfältig genug". Allerdings sorge die inhaltliche Kontroverse jetzt für bessere Forschung.
"Zusammengefasst ist es wichtig zu verstehen, dass die Studie nicht zeigt, dass die AMOC im Jahr 2050 zusammenbricht", bilanziert Ozeanografin Levke Caesar. Sie deute aber erneut darauf hin, dass die Atlantische Umwälzzirkulation bereits einen Teil ihrer Stabilität verloren haben könnte. Und das sei eine ernstzunehmende Botschaft, "unsere Treibhausgasemissionen zu reduzieren, welche die Hauptursachen für den anthropogenen Klimawandel sind."
Quelle: ntv.de