
Sie geht, er kommt, keiner von beiden meldete sich zu Wort: Die scheidende Bundeskanzlerin Merkel und ihr wahrscheinlicher Nachfolger Scholz.
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Mit Mehrheit der Ampelparteien verabschiedet der Bundestag Änderungen am Infektionsschutzgesetz. Die Debatte zeigt, wie tief der Graben beim Corona-Kurs geworden ist. Konsens gibt es nicht einmal darüber, worüber eigentlich abgestimmt wird.
Nach einer in Teilen scharf geführten Debatte hat der Bundestag mit der Mehrheit von SPD, Grünen und FDP einen Gesetzentwurf der Ampel-Parteien beschlossen, mit dem die Corona-Politik auf neue Grundlagen gestellt werden soll. Während SPD, Grüne und FDP argumentieren, die Maßnahmen im Infektionsschutzgesetz würden mit der beschlossenen Novelle rechtssicher, wirft die Union der künftigen Koalition vor, den Bundesländern "Instrumente aus der Hand zu schlagen, anstatt ihnen zusätzliche zu geben", wie Unionsfraktionsvize Thorsten Frei sagte.
Frei und die anderen Redner der Union forderten eine Verlängerung der epidemischen Lage nationaler Tragweite, auf deren Grundlage der Bundesgesundheitsminister bislang viele Corona-Maßnahmen per Verordnung erlassen kann - auch die Schließung von Gastronomie und Kulturveranstaltungen sowie die Verhängungen von Kontaktbeschränkungen. Dass dies bundesweit und per Verordnung geschieht, will vor allem die FDP für die Zukunft ausschließen.
Beide Seiten warfen einander vor, die Corona-Politik für parteipolitische Spielchen zu nutzen - zugleich nannten mehrere Redner der Union die neue Koalition erneut "Linksgelb". SPD und Grüne hätten sich von der FDP in "Geiselhaft" nehmen lassen, sagte der CDU-Abgeordnete Jan-Marco Luczak. Auch Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch fragte FDP-Chef Christian Lindner gerichtet: "Was haben Sie eigentlich den Grünen und der SPD in den Tee getan bei den Koalitionsverhandlungen, denn die Richtlinienkompetenz liegt ja jetzt offensichtlich bei Ihnen?"
Ist epidemische Lage rechtssicher?
SPD-Fraktionsvize Dirk Wiese sagte dagegen, die Union handle nach dem Motto, "erst die Partei, dann das Land". Auch Bartsch, dessen Partei sich in der Abstimmung enthielt, warnte die Union davor, das Gesetz im Bundestag zu blockieren. Für Empörung sorgte der AfD-Abgeordnete Martin Sichert, der behauptete, seit Februar seien mehr Menschen den Folgen der Impfung gestorben als an Corona.
Der CSU-Abgeordnete Stephan Stracke sagte, dass die Ampel-Parteien ihren Gesetzentwurf in den vergangenen Tagen nachgebessert hätten. Diese Nachbesserungen stellten "eine 140-Grad-Wende" dar, aber das reiche noch nicht. Unionsfraktionsvize Frei räumte ein, CDU und CSU würden dem Gesetzentwurf zustimmen, wenn die Ampel die "epidemische Lage von nationaler Tragweite" verlängere.
Vor allem die FDP aber hält dieses Konstrukt für rechtlich unsicher. Alle bisherigen Maßnahmen hätten "auf rechtlich tönernen Füßen" gestanden, sagte FDP-Fraktionsgeschäftsführer Marco Buschmann. SPD und Grüne tragen diese Position mit. SPD-Gesundheitsexpertin Sabine Dittmar sagte, die Union wolle verfassungsrechtlich fragwürdige Maßnahmen wie Ausgangssperren aufrechterhalten. "Auch Maskendeals wären weiter möglich, wenn Sie politische Verantwortung hätten. Aber die übernehmen jetzt wir."
Will die Union den Lockdown?
Mehrere Rednerinnen der Ampel warfen der Union vor, mit ihrem Beharren auf der Notlage-Verlängerung heimlich auf umstrittene Maßnahmen wie Schulschließungen und Ausgangssperren abzuzielen. "Wenn Sie einen flächendeckenden Lockdown wollen, dann müssen Sie das hier konkret sagen", rief SPD-Fraktionsvize Wiese. Die Grünen-Rechtspolitikerin Manuela Rottmann sagte, die Union habe am Dienstag im Hauptausschuss des Bundestags gesagt, dass Ausgangssperren nicht nötig seien. Heute fordere die Union das. "Was ist das denn für ein Kasperltheater?"
Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt warf der geschäftsführenden Bundesregierung Versäumnisse vor: "Seit wie vielen Wochen und Monaten hat eigentlich das Corona-Kabinett nicht getagt?", fragte sie. "Wo ist eigentlich der große Plan zum Boostern, den man spätestens zum Beginn des Septembers hätte besprechen müssen, vom Bund aus, mit den Ländern?" Dittmar sagte, die Union lasse sich bei ihrer Forderung nach einer Verlängerung der epidemischen Lage "von Ihren Freistaaten treiben, die Schlusslichter bei der Impfquote sind und Spitzenreiter bei der Inzidenz". Alle Maßnahmen, "deren Wegfall Sie jetzt so lautstark beklagen, die flächendeckende Schließung von Betrieben, von Schulen, von Hotels", hätten von den Ministerpräsidenten der Union längst angeordnet werden können. Das hätten diese aber nicht getan.
Der CDU-Politiker Frei sagte dazu, eine solche Debatte sei "nach hinten gerichtet". Ebenfalls mit Blick in den Rückspiegel warf Frei der FDP vor, sie verlange jetzt "einen Schulterschluss" in der Corona-Politik, "obwohl Sie in den vergangenen anderthalb Jahren gegen alles gestimmt haben, was hier zum Gesundheitsschutz verabschiedet worden ist". Das sei "an Scheinheiligkeit nicht zu überbieten".
Juristisches Fachseminar im Plenum
Zwischen Ampel und Union gab es nicht einmal einen Konsens darüber, was überhaupt beschlossen wurde. Restaurants, Bars und Clubs müssten geschlossen werden können, Großveranstaltungen müssten abgesagt werden können, und das werde mit dem Gesetzentwurf der Ampel-Parteien nicht länger möglich sein, hieß es von der Unionsfraktion.
Die Ampel-Parteien beharrten dagegen darauf, dass genau dies weiter möglich sei. Buschmann etwa sagte, es sei "natürlich" auch nach neuem Recht möglich, Freizeitveranstaltungen zu untersagen und Freizeiteinrichtungen zu schließen - wenn die jeweiligen Landtage dies beschließen. Solche Maßnahmen seien nur dann nicht möglich, "wenn Landesregierungen gegen den Willen ihrer Landtage handeln wollen". Und er fragte, warum Sachsen und Bayern das nicht machten. Buschmann betonte, die Lage sei dort am gefährlichsten, wo die Impf- und Booster-Quoten niedrig seien: in Sachsen und Bayern.
Zwischenzeitlich lasen sich CDU-Mann Luczak und die Grüne Rottmann gegenseitig aus dem Gesetzentwurf der Ampel-Parteien vor, um zu belegen, welche Maßnahmen nicht oder doch möglich seien.
Schließlich stimmten 398 Abgeordnete für das Gesetz. Die Ampelfraktionen kommen zwar zusammen auf 418 von 736 Abgeordneten, allerdings nahmen nur 688 Abgeordnete an der Abstimmung teil. Es liegt nahe, dass die Ampel-Abgeordneten weitgehend geschlossen für das Gesetz gestimmt haben, ohne aber nennenswert Stimmen anderer Fraktionen hinzugewonnen zu haben. Die 36 Enthaltungen sind wohl der 39-köpfigen Linke-Fraktion zuzuschreiben, die eine Enthaltung angekündigt hatte. CDU, CSU und AfD, die zusammen auf 280 Mandate kommen, lehnten das Gesetz mit 254 Nein-Stimmen ab.
Union droht mit Blockade im Bundesrat
Im Hauptausschuss hatte sich die Union am Dienstagabend bei der Abstimmung über das Ampel-Gesetz noch enthalten. Am Mittwoch entschied die Unionsfraktion dann in einer Sitzung, den Gesetzentwurf abzulehnen. Am heutigen Nachmittag findet eine Ministerpräsidentenkonferenz mit Bundeskanzlerin Angela Merkel statt, an der - wie schon bisher - auch der amtierende Vizekanzler Olaf Scholz teilnimmt sowie - das ist neu - auch Vertreter von Grünen und FDP.
Am Freitag dann muss das im Bundestag beschlossene Gesetz noch durch den Bundesrat. Ohne Zustimmung der unionsgeführten Länder gibt es dort keine Mehrheit. Ob es diese Zustimmung gibt, ist offen. Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Hendrik Wüst hatte am Mittwoch in einem Brief an Scholz und den Berliner Regierenden Bürgermeister Michael Müller das Ende der epidemischen Notlage als "unverantwortlich" bezeichnet. Das Gesetz sei aus Sicht der Unionsländer daher nicht zustimmungsfähig. Zumindest die CDU-geführten Bundesländer Schleswig-Holstein und Saarland wollen nach Information von ntv am Freitag für das Gesetz stimmen. Die Union ist an zehn der sechszehn im Bundesrat vertretenen Länderregierungen beteiligt. Kann sich eine Landesregierung nicht auf ein Votum einigen, muss sie sich enthalten; Enthaltung gilt im Bundesrat wie ein Nein.
Sollte der Bundesrat nicht zustimmen, muss das Gesetz in den Vermittlungsausschuss - ein Gremium, dass seit der Bundestagswahl noch gar nicht vom neuen Bundestag gebildet wurde. Dies würde den Prozess weiter verzögern. Luczak sagte, die Union sei bereit, in der nächsten Woche eine Sondersitzung des Deutschen Bundestages zu machen und "einen Vermittlungsausschuss einzusetzen, damit wir diese Probleme bei dem von Ihnen vorgelegten Gesetzentwurf noch lösen können".
Quelle: ntv.de