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Psychische Folgen des Krieges Kinder in Gaza - dem einsamsten Ort im Universum

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Die vierjährige Fulla Al-Laham verlor bei einem Raktenangriff im Süden des Gazastreifen ihre Eltern und alle ihre Geschwister.

Die vierjährige Fulla Al-Laham verlor bei einem Raktenangriff im Süden des Gazastreifen ihre Eltern und alle ihre Geschwister.

(Foto: REUTERS)

Seit mehr als zwei Wochen bekämpfen sich Israel und die Hamas im aktuellen Konflikt. In Gaza sterben Hunderte palästinensische Kinder. Und die, die überleben, tragen oft schwere psychische Schäden davon. Nicht selten stehen Jungen und Mädchen komplett allein da, ihre Familien unter Trümmern begraben.

Ein fünf Jahre altes Mädchen mit Verbrennungen am ganzen Körper, neben ihr eine Vierjährige mit einer schweren Kopfverletzung, ihr Gesicht mit Ruß bedeckt. "Sie sind die einzigen Überlebenden, die man aus den Trümmern ihres Zuhauses bergen konnte", sagt Ghassan Abu Sittah, ein britischer Chirurg am Al-Shifa-Krankenhaus in Gaza, der BBC - und sie seien kein Einzelfall. Jeden Tag versorgten er und seine Kollegen verwundete Kinder, die ihre komplette Familie verloren haben. Etwa 40 Prozent der Verletzten, die ins Krankenhaus eingeliefert werden, sind laut Abu Sittah minderjährig.

Seit dem verheerenden Großangriff der islamistischen Hamas am 7. Oktober, bei dem 1400 Menschen getötet und rund 220 verschleppt worden sind, hält Israel den Gazastreifen unter Dauerbeschuss. Viele Wohnhäuser, Schulen und auch medizinische Einrichtungen der kleinen Enklave sind zerstört, unter den Trümmern liegen zum Teil ganze Familien begraben. Nach Angaben des von der Hamas geführten Gesundheitsministeriums in Gaza sind inzwischen 1700 Kinder bei Raketenangriffen gestorben. Unabhängig lassen sich die Angaben nicht überprüfen.

Selbst für Palästinenser mit doppelter Staatsbürgerschaft gibt es aus dem Gazastreifen kein Entkommen.

Selbst für Palästinenser mit doppelter Staatsbürgerschaft gibt es aus dem Gazastreifen kein Entkommen.

(Foto: REUTERS)

Doch auch die, die überleben und sogar fliehen können, entwickelten schwere Traumata, sagt ein Psychiater in Gaza dem britischen "Guardian". Laut Fadel Abu Heen sind die psychologischen Auswirkungen des Krieges auf die Kinder deutlich zu spüren. Viele Kinder zeigten "schwere Trauma-Symptome wie Krampfanfälle, Bettnässen, Angst, aggressives Verhalten und Nervosität". Das Fehlen eines sicheren Ortes habe in der gesamten Bevölkerung ein allgemeines Gefühl der Angst und des Schreckens ausgelöst, wovon die Kinder am meisten betroffen seien, sagt Abu Heen.

Fast die Hälfte der 2,3 Millionen Einwohner des Gazastreifens sind Kinder. Seit mehr als zwei Wochen leben sie unter nahezu ständigem Bombardement. Viele von ihnen mussten aus ihren Häusern in provisorische Unterkünfte in von den Vereinten Nationen betriebenen Schulen fliehen. Zugang zu Nahrungsmitteln oder sauberem Wasser ist kaum vorhanden. "Unsere Kinder leiden nachts sehr", erzählt Tahreer Tabash, eine Mutter, die mit ihren sechs Kindern in einer UN-Schule untergebracht ist, Reuters. "Sie weinen die ganze Nacht, sie pinkeln sich ein, ohne es zu wollen."

Beide Seiten leiden

Nicht nur in Gaza liegt der Krieg zwischen der radikal-islamischen Hamas und Israel schwer auf der Psyche der jungen Bevölkerung. Auch auf der anderen Seite der hohen Mauern und Schutzzäune zeigten Kinder seit dem 7. Oktober zunehmend Anzeichen von Traumata, sagt Zachi Grossman, der Vorsitzende der israelischen pädiatrischen Vereinigung, der israelischen Nachrichtenseite Ynet. "Wir erleben einen Tsunami von Angstsymptomen bei Kindern" und das Problem werde "nicht angemessen angegangen".

Als die Hamas Israel überfiel, machten die Terroristen auch vor Kindern nicht halt. Sie wurden in ihren Kibbuzim ermordet, manche in den Gazastreifen verschleppt, wo sie bis heute als Geiseln gehalten werden, falls sie noch am Leben sind. Gleichzeitig schlugen - und schlagen immer noch - vielerorts unzählige Raketen ein. Israelische Familien nahe am Gazastreifen mussten ihre Häuser verlassen und zu Verwandten in den Norden ziehen.

Das alles hinterlasse Spuren an der Kinderpsyche, sagt der Kinderarzt. "Rund 90 Prozent der Kinder, die ins Kinderkrankenhaus kommen, klagen über Angstzustände." Dieses Phänomen hätte man früher nicht beobachtet. "Langsam setzt sich die Erkenntnis durch, dass dieses Problem sehr viel länger andauern wird als bisher", so Grossman.

Angst vor dem drohenden Tod

Am Ende leiden die Kinder am meisten unter dem blutigen Konflikt, wie das UN-Kinderhilfswerk UNICEF sagt - und das nicht erst seit dem 7. Oktober. In Gaza hat ein Jugendlicher im Alter von 15 Jahren in seinem Leben bereits fünf intensive Bombardierungen erlebt: 2008 bis 2009, 2012, 2014, 2021 und jetzt 2023. Studien, die nach früheren Konflikten durchgeführt wurden, zeigen, dass die Mehrheit der Kinder in Gaza Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung aufweist.

So stellte UNICEF im Jahr 2012 fest, dass 82 Prozent der palästinensischen Kinder im Gazastreifen entweder ständig oder meistens in Angst vor dem drohenden Tod lebten. Außerdem berichteten demnach fast alle Kinder über Schlafstörungen während der damaligen Raketenangriffe. Viele gaben an, wütend zu sein und sich unsicher zu fühlen. 76 Prozent der Kinder berichteten laut Studie über anhaltenden Juckreiz oder andere Krankheitsgefühle.

Nach dem dreiwöchigen Krieg zwischen der Hamas und Israel in den Jahren 2008 und 2009 ergab eine Studie des Gaza Community Mental Health Programms (GCMHP), dass drei Viertel der Kinder über sechs Jahren an einem oder mehreren Symptomen einer posttraumatischen Belastungsstörung litten, wobei fast eines von zehn Kindern alle Kriterien erfüllte. Hasan Zeyada, Psychologe bei der GCMHP, erklärte damals gegenüber dem "Guardian": "Die Mehrheit der Kinder leidet unter zahlreichen psychologischen und sozialen Folgen. Die Unsicherheit und das Gefühl der Hilflosigkeit und Ohnmacht sind überwältigend." Manche seien auch aggressiver geworden.

"Hölle auf Erden"

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Mit der geplanten Bodenoffensive der israelischen Armee befürchten Menschenrechtsorganisationen, dass sich die humanitäre Lage im Gazastreifen weiter dramatisch verschlechtern wird. Bereits 2009 beschrieb UN-Generalsekretär António Guterres das Leben der Kinder in Gaza als "Hölle auf Erden".

Zurück im Al-Shifa-Krankenhaus operiert Ghassan Abu Sittah das Kind einer Kollegin. Die Ärztin und ihr anderes Kind seien bei einem Raketenangriff getötet worden, erzählt er der BBC. Nur die Tochter hätte schwer verletzt überlebt. Was mit ihr passiert, wisse er nicht. Und auch nicht, was aus dem Krankenhaus wird, das längst hätte evakuiert werden müssen - angesichts der vielen Schwerverletzten eine unmögliche Aufgabe. Nur in einer Sache ist sich Abu Sittah sicher: "Es gibt keinen einsameren Ort in diesem Universum als das Bett eines verletzten Kindes, das keine Familie mehr hat, die sich um es kümmert."

Quelle: ntv.de

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