Nicht nur die Ukraine in Gefahr Putins Umsturzpläne für die Ex-Sowjetländer
23.03.2023, 17:34 Uhr
Wladimir Putin, der die Sowjetunion wiederherstellen möchte? Das wurde schon voriges Jahr beim Kölner Rosenmontagsumzug aufgegriffen.
(Foto: imago images/Future Image)
Die Ukraine steht im Fokus von Wladimir Putins Großrussland-Fantasien. Im Blick hat der Kreml-Chef aber auch die anderen ehemaligen Sowjetstaaten, wie Umsturzpläne, Geheimdokumente und hybride Kriegsführung in mehreren Ländern zeigen.
Die Ukraine ist nicht das einzige Ex-Sowjetland, das Russland ins Visier genommen hat. In den vergangenen Monaten wurden Umsturzpläne auch für Belarus und die Republik Moldau bekannt. Für viele Kriegsbeobachter und Russland-Experten kommt das nicht überraschend. Zu offensichtlich hat Moskau in den vergangenen Jahrzehnten versucht, Länder im postsowjetischen Raum zu destabilisieren.
Russlands Krieg in der Ukraine wird nicht der letzte sein, wenn das Putin-Regime im Nachbarland erfolgreich sein sollte, ist zum Beispiel Carlo Masala überzeugt. Der Militärexperte von der Universität der Bundeswehr in München hatte schon voriges Jahr im Stern-Podcast "Ukraine - die Lage" deutlich gemacht, dass es Putin höchstwahrscheinlich um mehr geht als den Donbass und die Krim. "Deswegen ist zu befürchten, dass jeder Stopp dieses Krieges, der der Russischen Föderation territoriale Gewinne konzediert, seitens der Russischen Föderation nur als Pause genutzt wird, um in den künftigen Jahren die eigentlichen Ziele zu erreichen. Dazu zählt die gesamte Ukraine, dazu zählt Moldau, dazu zählt möglicherweise auch Georgien."
Putin geht es nach Einschätzung von Carlo Masala um die "Vergrößerung des Machtbereichs der Russischen Föderation". Was das genau bedeutet, weiß nur er selbst und sein engster Machtzirkel. Die Möglichkeiten reichen von Pufferzonen zur NATO an den russischen Außengrenzen bis hin zur Errichtung eines neuen Großrusslands, möglicherweise in den Grenzen der ehemaligen Sowjetunion.
Sowjetunion? In 15 Einzelstaaten zerfallen
Die UdSSR ist nach ihrem Zusammenbruch Anfang der 1990er Jahre in 15 souveräne Einzelstaaten zerfallen. Direkter Nachfolger der Sowjetunion ist völkerrechtlich die Russische Föderation. Im Baltikum wurden Litauen, Lettland und Estland nach Ende der Sowjetunion wieder zu souveränen Staaten. In Osteuropa erlangten die Ukraine, Belarus und die Republik Moldau Unabhängigkeit. Im Kaukasus erklärten Georgien, Armenien und Aserbaidschan ihre Souveränität. In Zentralasien kamen Kasachstan, Usbekistan, Turkmenistan, Tadschikistan und Kirgisistan als eigenständige Staaten auf die Weltkarte.
Drei Jahrzehnte später versucht Putin, die Zeit zurückzudrehen. Acht Jahre nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim, überfiel Russland am 24. Februar 2022 die gesamte Ukraine. Stand jetzt besetzt Russland etwa 18 Prozent des ukrainischen Staatsgebiets. Die dauerhafte Kontrolle über den gesamten Donbass im Osten des Landes dürfte das verbliebene "Mindestkriegsziel" des Kreml sein, ist Sicherheitsexperte Christian Mölling von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) im "Ukraine - Die Lage"-Podcast überzeugt.
Die Fernziele Russlands, die Großmachtfantasien von Kreml-Chef Putin, reichen aber noch viel weiter. Darauf deuten unter anderem geleakte Geheimdokumente oder Aussagen von Kreml-Hardlinern wie Ex-Präsident Dimitri Medwedew hin.
Moldau? Angst vor Umsturz durch Russland
Angst vor einem Angriff aus Russland hat zum Beispiel die Republik Moldau. Hinter dem kleinen Land zwischen der Ukraine und Rumänien liegen turbulente Jahrzehnte. Seit der Unabhängigkeit vor über 30 Jahren existiert ein sogenannter De-facto-Staat auf dem Staatsgebiet Moldaus: Transnistrien, das von prorussischen Separatisten kontrolliert und von Moskau finanziert wird, um die Republik Moldau zu destabilisieren.
Kürzlich wurde ein konkreter Umsturzplan für Moldau öffentlich. Demnach soll Russland 2021 einen Plan entworfen haben, wie bis 2030 gezielt prorussische Strömungen in Moldau gefördert werden sollen, um das kleine Land in den eigenen Machtbereich zu integrieren. Der moldauische Geheimdienst hatte bereits voriges Jahr vor einer Invasion durch russische Truppen gewarnt. Die Frage sei nicht "ob, sondern wann" dies passiere, hieß es damals.
"Wir sehen in der Republik Moldau eine sich fortlaufend drehende innenpolitische Zuspitzung eines Konflikts, gleichzeitig eine Zuspitzung des Konflikts mit Russland. Ein wesentliches Merkmal dieses Konflikts ist, dass dieser hybrid geführt wird. Das heißt, es kommen ganz unterschiedliche Mittel zum Einsatz", sagt Hannes Meissner, Politikwissenschaftler und Risikoanalyst von der Universität Wien, im ntv-Podcast "Wieder was gelernt".
Wozu der hybride Krieg führen kann, zeigt der Rücktritt der moldauischen Regierung vor wenigen Wochen. Ministerpräsidentin Natalia Gavrilita zog Mitte Februar nach nur eineinhalb Jahren im Amt die Reißleine - und mit ihr das gesamte Kabinett. Zuvor hatte die prorussische Opposition massiv Stimmung gegen die europäisch ausgerichtete Regierung gemacht.
Belarus? Längst Vasall Russlands
De facto längst in den Händen Russlands ist ein anderes Ex-Sowjetland. Belarus ist der treueste Verbündete Moskaus, die vollständige Einverleibung durch Russland scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein. Im Februar war auch hier ein Geheimdokument aufgetaucht, das Pläne enthüllte, wonach der Kreml angeblich die Annexion von Belarus plant. Das von Experten als echt eingestufte Papier zeigt, wie Belarus bis zum Jahr 2030 Stück für Stück an Russland angegliedert werden soll.
Das habe Moskau aber noch nicht mal nötig, ordnet Politologe Markus Kaim von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) bei ntv ein. "Die aktuelle Situation ist für die russische Führung sehr vorteilhaft. Man kann darauf verweisen, dass sich Belarus freiwillig im Bannkreis Moskaus befinde." Dadurch würden Imperialismus-Vorwürfe des Westens abgeschwächt, so Kaim.
Belarus hat bei den Vereinten Nationen zuletzt als eines von nur sieben Ländern gegen die Verurteilung des russischen Angriffskriegs gestimmt. Diktator Lukaschenko steht eng an Putins Seite, hilft den Russen logistisch im Ukraine-Krieg. Nur eigene Soldaten schickt Lukaschenko bisher nicht. Mutmaßlich hat er Angst vor neuen Massenprotesten der eigenen Bevölkerung. Die hätten das Regime 2020 fast gestürzt, Lukaschenko blieb damals nur dank massivem Wahlbetrug und russischer Hilfe im Amt.
Georgien? Gleich zwei Separatistengebiete
Einfluss hat Russland auch in Georgien. Das Land am Schwarzen Meer, südlich des Kaukasus, schlägt sich seit mehreren Jahren gleich mit zwei Separatistenregionen im eigenen Land herum: Abchasien und Südossetien. Als Mutterstaat Georgien 2008 versucht hat, Südossetien zurückzuerobern, griff Russland ein und drängte das georgische Militär zurück. Nach fünf Tagen war der Krieg vorbei.
Unruhen gab es auch vor wenigen Wochen. Die georgische Regierung hatte ein umstrittenes Gesetz zu "ausländischen Agenten" auf den Weg gebracht. Kritiker sahen darin Parallelen zu einem 2012 in Russland verabschiedeten Gesetz, das der Kreml seitdem nutzt, um gegen Kritiker vorzugehen. Viele Menschen in Georgien fürchten, dass die Regierung sich Russland annähert - und nicht der EU und NATO.
Die Proteste der Bevölkerung haben jedoch gewirkt. Die Regierung war so stark unter Druck geraten, dass sie das Gesetz wenige Tage später wieder zurückzog. Das Misstrauen gegenüber der georgischen Regierung aber bleibt bei vielen Menschen im Land.
Kasachstan? Versucht es mit Schaukelpolitik
Durchaus brisant ist die Lage auch in Kasachstan. Kein Ex-Sowjetstaat ist so abhängig von russischen Importen wie das größte Binnenland der Welt. Auch ethnisch und kulturell gibt es enge Verbindungen. Fast ein Fünftel der 19 Millionen kasachischen Staatsbürger sind Russen, in Nordkasachstan stellen sie sogar die Bevölkerungsmehrheit.
Doch im Schatten des Ukraine-Kriegs fährt Kasachstan eine Doppelstrategie. Kasachstan will Russland nicht verprellen, versucht aber gleichzeitig die Beziehungen zur EU zu verbessern. Das zentralasiatische Riesenland will seinen Ressourcenreichtum nutzen und seine Bedeutung als Rohstoffpartner für den Westen stärken. "Kasachstan versucht sich schon seit längerer Zeit wirtschaftspolitisch an einer Art Schaukelpolitik. Zum einen bestehen große Abhängigkeiten und Verflechtungen mit Russland. Zum anderen versucht man, stärker mit China und auch mit dem Westen zu kooperieren", berichtet Experte Meissner.
Seit Beginn des Ukraine-Kriegs geht in der kasachischen Bevölkerung die Angst um, Russland könnte eines Tages auch in Kasachstan einmarschieren. Die russische Minderheit im Land könnte für Putin ein willkommener Vorwand sein. Russische Nationalisten haben in der Vergangenheit gefordert, den russisch-dominierten Norden Kasachstans zu annektieren. Medwedew zum Beispiel bezeichnete Kasachstan vergangenes Jahr als "künstlichen Staat".
Usbekistan? "Offener Konflikt mit Russland"
Kasachstans südlicher Nachbar Usbekistan ist zwar politisch und wirtschaftlich weniger abhängig von Russland. Aber das Land macht sich trotzdem Sorgen, dass es ebenfalls Opfer der Großrussland-Fantasien des Kreml werden könnte. Usbekistan befinde sich in einem "offenen und deutlichen Konfliktverhältnis" zu Russland, offenbart Meissner.
Usbekistan ist seit 2012 nicht mehr Teil der Organisation des Vertrags über Kollektive Sicherheit (OVKS), dem von Russland angeführten Sicherheitsbündnis. "Usbekistan ist trotz Druck Putins bis zuletzt auch nicht der Eurasischen Wirtschaftsunion beigetreten. Man hat die Krim nicht als Teil Russlands anerkannt, man hat Luhansk und Donezk nicht als unabhängige Volksrepubliken anerkannt, stattdessen die territoriale Souveränität der Ukraine betont", erklärt Meissner im Podcast.
Doch auch Usbekistan hat eine Achillesferse, die sich Russland zunutze machen kann. In der autonomen Region Karakalpakstan gab es vergangenen Sommer blutige Proteste. Der russische Geheimdienst habe laut Meissner möglicherweise dabei geholfen, sie niederzuschlagen. "Es gibt das starke Gerücht, dass der russische Auslandsgeheimdienst beim Aufbrechen dieser Unruhen eine Rolle gespielt hat. Um Präsident Mirsijojew aufzuzeigen, dass Usbekistan sicherheitspolitisch von Russland abhängig ist."
Klar ist, dass Russland in etlichen früheren Sowjetstaaten seine Finger im Spiel hat. Ob das bedeutet, dass Putin tatsächlich die Sowjetunion wiederherstellen möchte, ist momentan Spekulation, Anzeichen dafür gibt es aber etliche.
"Wieder was gelernt" ist ein Podcast für Neugierige: Warum wäre ein Waffenstillstand für Wladimir Putin vermutlich nur eine Pause? Warum fürchtet die NATO die Suwalki-Lücke? Wieso hat Russland wieder iPhones? Mit welchen kleinen Verhaltensänderungen kann man 15 Prozent Energie sparen? Hören Sie rein und werden Sie dreimal die Woche ein bisschen schlauer.
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Quelle: ntv.de