Geheimes Dokument aufgetaucht Kreml plant wohl schrittweise Übernahme von Belarus
22.02.2023, 13:42 Uhr (aktualisiert)Monate vor der Invasion in die Ukraine plant der Kreml offenbar die Annexion eines anderen Nachbarstaats. Die soll allerdings ohne militärische Mittel ablaufen: Ein geleaktes Papier aus der Moskauer Präsidialverwaltung legt dar, wie Belarus bis zum Jahr 2030 Stück für Stück an Russland angegliedert werden soll. Experten stufen es als echt ein.
Russland hat nach einem Bericht der "Süddeutschen Zeitung" (SZ) offenbar Pläne, das benachbarte Belarus schrittweise zu übernehmen. Das legt ein Dokument nahe, das aus der Moskauer Präsidialverwaltung stammen soll und das die SZ gemeinsam mit dem WDR, dem NDR und neun weiteren europäischen Medien ausgewertet hat. Es ist angeblich einige Monate vor Russlands Angriff auf die Ukraine entstanden.
Den Recherchen zufolge wollen die Strategen von Russlands Präsident Wladimir Putin Belarus politisch, wirtschaftlich und militärisch unterwandern. Ziel sei bis zum Jahr 2030 ein gemeinsamer Unionsstaat unter russischer Führung. Westliche Sicherheitskreise halten das Papier laut der SZ für authentisch.
Das interne 17-seitige Kreml-Dokument mit dem Titel "Strategische Ziele der russischen Föderation in Belarus" stammt offenbar aus dem Sommer 2021. Anhand von kurz-, mittel- und langfristigen Zielen beschreibt es, wie sich der Kreml eine souveräne und unabhängige europäische Nation bis zum Jahr 2030 Stück für Stück einverleiben will – ohne dass es einer militärischen Intervention bedürfte. Untergliedert ist es jeweils in die Bereiche Politik und Verteidigung, Handel und Ökonomie sowie Gesellschaft.
Erstes Zwischenziel war demnach das Jahr 2022. Bis dahin sollte dem Bericht zufolge die Bevölkerung – insbesondere politische und militärischen Eliten - prorussisch beeinflusst und westliche Einflüsse zurückgedrängt werden, um ein Bollwerk gegen die NATO zu schaffen. Auch gemeinsame Militärmanöver waren geplant. Die in Belarus begonnene Verfassungsreform sollte nach russischen Bedingungen vollendet, Gesetze mit denen der russischen Föderation "harmonisiert" werden, heißt es weiter. Bis 2025 wolle man unter anderem die russische Militärpräsenz in Belarus ausbauen und die Vergabe von russischen Pässen an die Bevölkerung vereinfachen. Energieversorgung, Transport und Kommunikation sollen in die russischen Systeme integriert werden. 2030 schließlich solle aus Russland und Belarus ein Unionsstaat werden, mit einheitlicher Grenz- Zoll- und Steuerpolitik, gemeinsamer Militärführung und einer gemeinsamen Währung. Russisch solle die dominierende Staatssprache werden.
Ein Puzzleteil in Putins großem Plan
Fachleute stufen das Papier der Zeitung zufolge als echt ein. "In seiner äußeren Form ähnelt das Dokument einem Standarddokument der russischen Bürokratie oder politischen Verwaltung", sagt Martin Kragh, stellvertretender Direktor des Stockholm Centre for Eastern European Studies (SCEEUS). Der Inhalt stimme "weitgehend mit den politischen Zielen Russlands gegenüber Belarus seit den 1990er-Jahren überein."
Auch mehrere westliche Geheimdienste, denen das Papier gezeigt wurde, hielten es für glaubwürdig. "Der Inhalt des Dokuments ist absolut plausibel und entspricht dem, was wir auch wahrnehmen", zitiert die SZ einen hochrangigen Nachrichtendienstler. Man müsse das Strategiepapier als Teil eines größeren Plans von Putin sehen: der Schaffung eines neuen großrussischen Reichs.
"Russlands Ziele in Belarus sind die gleichen wie in der Ukraine", sagte Michael Carpenter, US-Botschafter bei der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) der Zeitung: "Nur, dass Moskau in Belarus eher auf Zwang als auf Krieg setzt." Am Ende gehe es in beiden Fällen um die Wiederherstellung eines Großrusslands. Franak Viacorka, Chefberater der im Exil lebenden belarussischen Oppositionspolitikerin Swetlana Tichanowskaja, warnte, der Plan sei eine Blaupause. Er könne auch "für Kasachstan, Armenien, Moldau" angewandt werden.
Der russische Einfluss im benachbarten Belarus hat bereits seit Sommer 2020 deutlich zugenommen. Nach der mutmaßlich manipulierten Präsidentenwahl im August 2020 konnte der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko auf wirtschaftliche und auch personelle Unterstützung aus Moskau zählen – zum Preis der eigenen Unabhängigkeit. Unter anderem ersetzten kremltreue Journalisten die streikende Belegschaft der belarussischen Staatsmedien. Auch die Zusammenarbeit der Geheimdienste wurde damals schon intensiviert.
(Dieser Artikel wurde am Dienstag, 21. Februar 2023 erstmals veröffentlicht.)
Quelle: ntv.de, ino