Kreml-Herrscher will Zar werden Waffenstillstand? Für Putin vermutlich nur eine Pause
20.06.2022, 12:04 Uhr (aktualisiert)
Wladimir Putin bemüht immer wieder historische Vergleiche, um seine Eroberungsfantasien zu untermauern - aber eher zu Ehren von Peter dem Großen als zu Zar Nikolaus II.
(Foto: REUTERS)
Je länger der russische Angriff auf die Ukraine dauert, desto mehr stellt sich die Frage: Wie kann dieser Krieg enden? Italien und Ungarn drängen auf einen schnellen Waffenstillstand, doch die Ukraine und andere Nachbarn Russlands befürchten für diesen Fall einen faulen Frieden.
Die Ukraine ist nicht bereit, auch nur einen Meter ihres Staatsgebiets freiwillig an Russland abzutreten. Man werde nicht nur die russisch besetzten Gebiete im Osten des Landes zurückerobern, sondern auch die Krim, versprach Präsident Wolodymyr Selenskyj seiner Bevölkerung Anfang der Woche. "Die ukrainische Flagge wird wieder über Jalta und Sudak, über Dschankoj und Jewpatorija wehen." Kein russischer Besatzer werde jemals in Frieden auf der Halbinsel am Schwarzen Meer leben können.
Russland hatte die Krim 2014 völkerrechtswidrig annektiert. Das Statement von Selenskyj zeigt: Die Ukraine ist zumindest rhetorisch nicht bereit, Russland irgendwelche Zugeständnisse zu machen - im Gegenteil. Die Staatsführung glaubt nach wie vor, dass sie den Angriff abwehren, den Krieg gewinnen und die Zeit zurückdrehen kann.
Dauerhafter Frieden für Putin keine Option
Schweigen die Waffen in der Ukraine erst, wenn es einen klaren Sieger und einen klaren Verlierer gibt? In welcher Konstellation auch immer? Möglich. Denn der ukrainische Präsident kann seiner Bevölkerung nur schwer vermitteln, dass sich Russland acht Jahre nach der Krim auch den Donbass einfach so einverleiben darf - ob international anerkannt oder nicht.
Umgekehrt wäre es allerdings genauso unglaubwürdig, würde der russische Präsident Wladimir Putin plötzlich erklären, dass er sich mit diesen Gebieten zufriedengibt, meint zum Beispiel Osteuropa-Historikerin Franziska Davies. "Es wird immer die Gefahr bestehen, dass er einen Waffenstillstand nutzt, um Kräfte zu sammeln und abermals anzugreifen", sagte sie im ntv-Interview.
Ein Waffenstillstand wäre ein fauler Kompromiss, befürchtet auch Carlo Masala. Putin wäre bestimmt ab einem gewissen Punkt zu Verhandlungen bereit, hat der Militärexperte von der Bundeswehr-Universität im Stern-Podcast "Ukraine - Die Lage" erklärt. Ein dauerhafter Frieden sei für den russischen Präsidenten aber keine Option. "Ich erwarte, dass Putin bereit ist, über einen Waffenstillstand zu verhandeln, sobald er die beiden Oblasten Donezk und Luhansk eingenommen und damit eine Landverbindung zur Krim abgesichert hat."
Masala prognostiziert, dass ein solcher Waffenstillstand aus Putin-Sicht ein "taktischer Waffenstillstand" wäre. Russland würde die Zeit nutzen, um sich neu zu sortieren, seine Truppen zu regenerieren, so der Militärexperte. "Das langfristige Ziel wäre damit nicht aufgegeben. Das heißt, wir müssen damit rechnen, dass 2022 das Präludium für einen neuen Angriff in ein paar Jahren ist. Genau wie 2014 das Präludium für 2022 war."
Italien und Ungarn wollen Waffenstillstand
Liegt Carlo Masala richtig, müssten die EU und andere Verbündete die Ukraine so lange unterstützen, bis sie die Bedingungen für einen Waffenstillstand diktieren kann. Einigen Regierungen scheint aber die Geduld dafür zu fehlen. Länder wie Italien oder Ungarn rufen schon seit Ende Mai zu einem schnellen Waffenstillstand auf. Dann könnte man anschließend über ein Ende der russischen Hafenblockade reden und, wie man die Lebensmittelkrise für die Ärmsten der Welt löst. Aber natürlich auch darüber, ob man die Sanktionen lockert.
Für die Ukraine selbst, aber auch für EU-Mitglieder wie Polen, Lettland, Litauen oder Estland ist das der völlig falsche Ansatz. Sie sehen es wie Militärexperte Masala und warnen vor einem faulen Frieden. Würde Putin seinen Eroberungszug wirklich stoppen, wenn er sich nach der Krim auch noch den Donbass unter den Nagel gerissen hätte? Oder würde er neue Kräfte sammeln und dann den nächsten Angriff auf ein neues Ziel vorbereiten?
Donbass allein wird Putin nicht reichen
"Wenn man Putins Worten Glauben schenkt, dann geht es ihm um die territoriale Erweiterung oder zumindest die Kontrolle von viel mehr Territorium als nur den Donbass und die Krim. Deswegen ist zu befürchten, dass jeder Stopp des Krieges, der der Russischen Föderation territoriale Gewinne konzediert, nur genutzt wird, um dann die eigentlichen Ziele zu erreichen", analysiert Masala. Zu den eigentlichen Zielen gehöre die Eroberung der gesamten Ukraine, außerdem seien Eroberungen der Republik Moldau sowie Georgien wahrscheinlich. "Es geht Putin um die Vergrößerung des Machtbereichs der Russischen Föderation. Ich glaube nicht, dass er sich mit dem Donbass zufriedengeben wird."
Putin selbst hat diese Vision zuletzt immer wieder durchblicken lassen. Mutmaßlich war es kein Zufall, dass er sich vergangene Woche mit Peter dem Großen verglichen hat. Der Zar hatte im Nordischen Krieg Anfang des 18. Jahrhunderts das Gebiet um St. Petersburg von Schweden erobert oder - wie Putin sagt - zurückgeholt. Als erster Zar hatte sich Peter der Große auch den Titel Imperator gegeben und mit den Eroberungen im Norden Europas Russland einen Zugang zur Ostsee gesichert, das sogenannte "Fenster nach Europa".
Vergleich mit Peter dem Großen
Auch damals habe kein europäisches Land das Gebiet als russisch anerkannt, obwohl dort "auch Slawen gelebt haben", behauptet Putin. Daran habe sich 300 Jahre später fast nichts geändert, sagt der russische Präsident. Und so begründet er auch den Ukraine-Feldzug. Russen würden in der Ukraine systematisch unterdrückt, lautet der Vorwurf. Darüber hinaus spricht er dem Nachbarstaat sein Existenzrecht ab und meldet Besitzansprüche für weite Teile des Landes an, die historisch gesehen russisches Herrschaftsgebiet seien. "Offenbar ist es auch unser Los: Zurückzuholen und zu stärken", sagte Putin am 9. Juni, dem 350. Geburtstag von Peter dem Großen.
In seiner Rede erwähnte Putin auch die Stadt Narva im heutigen Estland. Peter der Große hatte die drittgrößte Stadt des EU-Landes bei seinem Nordeuropa-Feldzug ebenfalls erobert und ins russische Reich eingegliedert. Oder "zurückgewonnen", wie Putin behauptet.
Länder wie Estland, aber auch Litauen, Lettland und Polen warnen mit Blick auf solche Anspielungen also nicht zu Unrecht vor Putins Eroberungsfantasien. Militärexperte Masala geht dennoch weiter davon aus, dass der russische Präsident kein NATO-Land angreifen wird. "Ich glaube noch immer, dass sich Putin mit Blick auf das Baltikum zurückhalten wird, weil er gar nicht einschätzen kann, wie entschlossen die NATO auf einen Angriff auf das baltische Territorium reagieren wird. Letzten Endes glaube ich aber, dass Putin, um im Baltikum seine Ziele zu erreichen, gar nicht militärisch vorgehen muss. Es reicht die hybride Kriegsführung, um diese drei relativ kleinen Staaten zu destabilisieren."
Waffenstillstand nicht in Sicht
Ein baldiger Waffenstillstand ist in der Ukraine nicht in Sicht und vor allem wäre das zum aktuellen Zeitpunkt kein wirkungsvoller. Kiew will die russischen Besatzer komplett zurückdrängen, auch von der Krim. Vorher ist man nicht zu Verhandlungen bereit. Mit dem russischen Präsidenten sind derzeit auch keine ernsthaften Verhandlungen vorstellbar.
Die großen Unterstützer-Länder der Ukraine stochern deshalb im Nebel, was die Kriegsziele betrifft. Deutschlands Außenministerin Baerbock und ihr amerikanischer Amtskollege Austin erklärten, man müsse Russland dauerhaft "schwächen", um so auch für Sicherheit in den Nachbarländern zu sorgen. Aber wie diese Schwächung aussieht, sagten sie nicht.
"Wieder was gelernt" ist ein Podcast für Neugierige: Warum wäre ein Waffenstillstand für Wladimir Putin vermutlich nur eine Pause? Warum fürchtet die NATO die Suwalki-Lücke? Wieso hat Russland wieder iPhones? Mit welchen kleinen Verhaltensänderungen kann man 15 Prozent Energie sparen? Hören Sie rein und werden Sie dreimal die Woche ein bisschen schlauer.
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(Dieser Artikel wurde am Freitag, 17. Juni 2022 erstmals veröffentlicht.)
Quelle: ntv.de