Gedenken an den Super-GAU20 Jahre Tschernobyl
Mit Gottesdiensten und Schweigeminuten haben zehntausende Menschen am Mittwoch der Atomreaktor-Katastrophe von Tschernobyl vor 20 Jahren gedacht.
Mit Gottesdiensten und Schweigeminuten haben zehntausende Menschen am Mittwoch der Atomreaktor-Katastrophe von Tschernobyl vor 20 Jahren gedacht. Am Ort der Tragödie erinnerte der ukrainische Präsident Viktor Juschtschenko an das Schicksal unzähliger Strahlenopfer. Trauernde Angehörige brachten Blumen zu den Tschernobyl-Gedenkstätten.
Auf dem Roten Platz in Moskau nahm die Polizei ein Dutzend Atomgegner fest, die gegen den geplanten Bau neuer Kernkraftwerke in Russland und der Ukraine demonstriert hatten. Unter Wissenschaftlern herrscht bis heute Streit über das Ausmaß der Reaktorkatastrophe vom 26. April 1986, die auch in der 1500 Kilometer entfernten Bundesrepublik viele Menschen in Panik versetzte.
In Rom rief Papst Benedikt XVI. vor Tausenden Menschen auf dem Petersplatz dazu auf, Atomenergie nur friedlich zu nutzen. Der Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Bischof Wolfgang Huber, warnte, die zivile Nutzung der Atomenergie drohe immer wieder in eine militärische Nutzung überzugehen. Bundesumweltminister Sigmar Gabriel (SPD) erneuerte die Forderung nach einem Atomausstieg und betonte, dass sich dies in Deutschland bis zum Jahr 2020 vollziehen werde.
Demonstration auch in Minsk
In der weißrussischen Hauptstadt Minsk versammelten sich Gegner des autoritären Staatschefs Alexander Lukaschenko zum traditionellen Tschernobyl-Marsch. Der Marsch in Richtung des Hauptgebäudes der Akademie der Wissenschaften wurde von Oppositionsführer Alexander Milinkewitsch angeführt. Die Polizei rief über Lautsprecher die Menschen auf, nach Hause zu gehen, da die Kundgebung von den behörden nicht genehmigt worden sei.
Bereits in der Nacht zum Mittwoch hatten sich in der abgesperrten Zone von Tschernobyl in der Nordukraine sowie im Kiewer Stadtzentrum Hunderte Menschen im Gedenken an die schlimmste Atomkatastrophe der Geschichte versammelt. Um 1.23 Uhr (Ortszeit) läuteten vielerorts in der Hauptstadt die Glocken. Zu diesem Zeitpunkt war vor 20 Jahren der vierte Reaktorblock von Tschernobyl nach einem gescheiterten Experiment explodiert. Der Unfall setzte eine gewaltige radioaktive Strahlung frei, etwa 500 Mal stärker als nach dem Atombombenabwurf auf Hiroschima 1945.
Mehrere Zwischenlager geplant
Präsident Juschtschenko zeigte sich zuversichtlich, dass in Kürze mit ausländischer Finanzhilfe der seit Jahren geplante Bau einer neuen Schutzhülle um den Reaktor begonnen werden könne. Nach der Katastrophe hatten Hunderttausende Einsatzhelfer, so genannte Liquidatoren, einen provisorischen Betonmantel um den explodierten Reaktor errichtet, der an vielen Stellen gerissen ist und einzustürzen droht.
Juschtschenko kündigte an, die Zone um den Reaktor in der Zukunft wieder besiedeln zu wollen. "Für Hunderttausende oder vielleicht Millionen Menschen, die nun über die Ukraine verstreut leben, ist dieses Stück Land heilig", betonte der Präsident. Trotz der Proteste von Atomgegnern bekräftigte Juschtschenko die Absicht, mehrere Zwischenlager für radioaktive Abfälle in der Region fertig zu stellen sowie langfristig neue Atommeiler zu bauen. Auch Lukaschenko äußerte Atompläne. "Wir müssen früher oder später eine eigene Atomindustrie aufbauen", sagte der weißrussische Präsident bei einem Besuch in der am stärksten verstrahlten Region Gomel. Beide Länder wollen die Abhängigkeit von russischen Energielieferungen verringern.
Die Gedenkfeiern zum 20. Jahrestag von Tschernobyl wurden vom Dauerstreit über die Ausmaße der Katastrophe überschattet. Während eine zentrale Studie unter Führung der Weltgesundheitsorganisation WHO von langfristig maximal 4.000 Toten ausgeht, sprechen Atomkraftgegner von bis zu 100.000 Toten. Juschtschenko hatte am Montag auf einer Konferenz in Kiew gesagt, in den Registern und offiziellen Statistiken fehlten die Namen von "Hunderttausenden Opfern der Tschernobyl-Katastrophe". Bis heute leben in Weißrussland, der Ukraine und Russland etwa fünf Millionen Menschen auf verstrahlten Böden.
"Atomar-fossiles Zeitalter geht zu Ende"
Der SPD-Umweltexperte Hermann Scheer bezeichnete Atomenergie bei n-tv als unzeitgemäß. "Das atomar-fossile Zeitalter ist jetzt schon am Röcheln. Man sieht es an allen Ecken und Enden."
"Eine Krise jagt die andere - von der Atomkrise bis zur fossilen Versorgungskrise", so Scheer weiter. "Das Argument, man brauche noch Zeit für die Mobilisierung erneuerbarer Energien, ist falsch. Nichts geht schneller zu mobilisieren als erneuerbare Energien." Scheer ist Vorsitzender des Weltrates für Erneuerbare Energien.