"Collinas Erben" sind ungeduldig Kramer verwirrt, Gnabry schwerelos
07.11.2016, 10:21 Uhr

Alles klar? Irgendwie nicht: Christoph Kramer.
(Foto: imago/Bernd König)
Die Regeländerungen bei "Notbremsen" im Strafraum sorgen noch fünf Monate später gar bei einem Weltmeister für Irritationen. Ein anderer Weltmeister stellt in Schalke den Schiedsrichter vor die knifflige Frage: Vorteil oder Elfmeter?
Der Arbeitstag von Christoph Kramer fand bereits nach 39 Minuten sein Ende. Doch dieser vorzeitige Feierabend war für den Mönchengladbacher Mittelfeldspieler alles andere als ein Anlass zur Freude. Denn der Grund dafür bestand in einer Gelb-Roten Karte, die ihm der gute Schiedsrichter Tobias Stieler am zehnten Spieltag in der Partie bei Hertha BSC (0:3) am Freitagabend im Olympiastadion vor die Nase gehalten hatte. "Wiederholtes Foulspiel", lautete das gestrenge, aber allemal vertretbare Urteil des Unparteiischen gegen den Weltmeister, der zweimal einen aussichtsreichen Angriff der Berliner mit unfairen Mitteln verhindert respektive unterbunden hatte: bereits nach acht Minuten durch ein Halten gegen Mitchell Weiser - dafür gab es die Gelbe Karte - und wenige Minuten vor der Pause schließlich durch eine (überdies rücksichtslose) Grätsche gegen Fabian Lustenberger.Kramer mochte seinen ersten Platzverweis in der Bundesliga im 101. Spiel allerdings nicht so recht einsehen.
Und so machte seinem Unmut deshalb beim Verlassen des Feldes noch kurz gegenüber dem Vierten Offiziellen Luft, bevor er in der Kabine verschwand. Bereits drei Tage zuvor hatte sich der 25-Jährige über einen Referee beklagt, nach dem Heimspiel in der Champions League gegen Celtic Glasgow (1:1). Da nämlich war der Nationalspieler nicht einverstanden mit der Roten Karte, die der portugiesische Schiedsrichter Manuel de Sousa Kramers Kollegen Julian Korb in der 75. Minute wegen einer "Notbremse" im Strafraum gezeigt hatte.
"Collinas Erben" - das ist Deutschlands erster Schiedsrichter-Podcast, gegründet und betrieben von Klaas Reese und Alex Feuerherdt. Er beschäftigt sich mit den Fußballregeln, den Entscheidungen der Unparteiischen sowie mit den Hintergründen und Untiefen der Schiedsrichterei. "Collinas Erben" schreiben jeden Montag auf ntv.de über die Schiedsrichterleistungen des Bundesligaspieltags. Unser Autor Alex Feuerherdt ist seit 1985 Schiedsrichter und leitete Spiele bis zur Oberliga. Er ist verantwortlich für die Aus- und Fortbildung in Köln, Schiedsrichterbeobachter im Bereich des DFB und arbeitet als Lektor und freier Publizist.
Der Winkel für den gegnerischen Stürmer sei "sehr spitz" gewesen, argumentierte er. Sollte heißen: So eindeutig war die Torchance für Celtic nicht. Außerdem glaubte der Gladbacher, nach einer "Notbremse" im Strafraum gebe es seit dieser Spielzeit grundsätzlich keinen Platzverweis mehr, sondern - neben dem Elfmeter - nur noch eine Verwarnung. "Wir hatten vor der Saison eine Schiedsrichterbelehrung, in der uns das erzählt wurde", sagte Kramer dem Fußballmagazin "Westline". Gladbachs Manager Max Eberl wiederum ging gegenüber dem "Kicker" davon aus, dass nur die Torhüter von dieser Änderung profitieren und bei der unfairen Verhinderung einer klaren Tormöglichkeit im Strafraum nun Gelb statt Rot bekommen.
Beide lagen mit ihren Aussagen daneben; ohnehin scheint die Unsicherheit in Bezug auf die Änderungen beim Thema "Notbremse" noch immer groß. Dabei ist der neue Regeltext unmissverständlich: Wird im Strafraum durch ein Foul ein Tor oder eine offensichtliche Torchance verhindert, dann gibt es neben dem Strafstoß weiterhin eine Rote Karte, sofern der Spieler entweder keine Möglichkeit hatte, den Ball zu spielen, oder es erkennbar nicht versucht hat. Das ist beispielsweise immer dann der Fall, wenn es sich bei dem Foul um ein Halten, Ziehen oder Stoßen handelt. Gilt der Angriff im Zuge einer "Notbremse" dagegen dem Ball, der dabei lediglich knapp verfehlt wird, dann wird der betreffende Spieler seit dem Sommer nur noch mit der Gelben Karte bestraft.
Es ging es nicht um den Ball
Hintergrund dieser Änderung durch die Regelhüter vom International Football Association Board (Ifab) ist, dass die Verhinderung einer klaren Torchance im Strafraum individuell weniger hart bestraft werden soll, wenn sie im Kampf um den Ball geschieht, als wenn der Ball nicht gespielt werden konnte oder sollte. Einen Elfmeter gibt es in beiden Fällen ohnehin. "Notbremsen" außerhalb des Strafraums wiederum ziehen unverändert immer eine Rote Karte nach sich, auch wenn der Ball nur knapp verfehlt wird. Denn weil ein Freistoß die Tormöglichkeit nicht im selben Maße wiederherzustellen vermag wie ein Strafstoß, fällt die persönliche Strafe härter aus.

Das war ein Foul: Freiburgs Christian Günter bringt den Wolfsburger Daniel Didavi zu Fall.
(Foto: dpa)
Wird ein Tor oder eine offensichtliche Torchance durch ein absichtliches Handspiel verhindert - ob innerhalb oder außerhalb des Strafraums -, folgt ebenfalls nach wie vor zwingend der Platzverweis. Folgerichtig wurde Mönchengladbachs Julian Korb in der Champions League vorzeitig zum Duschen geschickt, weil er den Glasgower Moussa Dembelé festhielt, als dieser im Strafraum eine Großchance zum Torerfolg hatte. Und genauso folgerichtig stellte Schiedsrichter Felix Brych den Freiburger Christian Günter in der 85. Minute des Spiels gegen den VfL Wolfsburg (0:3) vom Platz, nachdem dieser eine offensichtliche Torchance von Daniel Didavi durch ein Stoßen wenige Meter vor dem eigenen Gehäuse zunichte gemacht hatte. Bei beiden Vergehen ging es nicht um den Ball, sondern nur darum, dem Gegner mit unfairen Mitteln am Torerfolg zu hindern. Hätten Korb und Günter dagegen mit einem Tackling versucht, die Kugel wegzuspitzeln, und dabei ihre Gegenspieler zu Fall gebracht, wäre ihnen die Rote Karte erspart geblieben.
Vorteil oder Elfmeter?
In der letzte Partie des Spieltags am Sonntagabend zwischen dem FC Schalke 04 und Werder Bremen (3:1) hatte der Unparteiische Günter Perl derweil gleich mehrere knifflige Strafraumsituationen zu beurteilen. Regeltechnisch besonders interessant war dabei jene in der 57. Minute, als der Schalker Nabil Bentaleb eine Flanke in den Sechzehnmeterraum schlug und sein Mitspieler Benedikt Höwedes von Santiago Garcia in der Strafraummitte mit grenzwertigen Mitteln daran gehindert wurde, den Ball zu erreichen. Die Kugel gelangte dafür zu Höwedes‘ völlig freistehendem Mitspieler Alessandro Schöpf, der aus zehn Metern per Direktabnahme am Bremer Torwart Felix Wiedwald scheiterte.
Für den Referee stellte sich hier zunächst die Frage, ob Garcias Einsatz gegen den Weltmeister strafstoßwürdig ist – und falls ja, ob es angesichts der möglichen Großchance für Schöpf überhaupt sinnvoll wäre, auf Strafstoß zu entscheiden. Denn darin besteht die Tücke: Wird die Vorteilsbestimmung angewandt und tritt der Vorteil ein – was in dem Moment der Fall ist, in dem ein Spieler ungehindert an den Ball kommt und sogar aus bester Position schießen kann –, kann kein Elfmeter mehr gegeben werden, falls der Vorteil nicht zum Torerfolg führt. Wird hingegen nicht auf Vorteil, sondern auf Strafstoß erkannt, dann sieht der Referee nicht gut aus, wenn der Ball kurz nach seinem Pfiff plötzlich im Tor liegt. Beide Entscheidungen sind also mit einem Risiko verbunden – und zwar unvermeidlich.
Günter Perl entschied sich letztlich, das Spiel laufen und Schöpf schießen zu lassen. Das war schon angesichts des etwas unklaren Zweikampfs zwischen Garcia und Höwedes die richtige Entscheidung, und die Schalker Proteste hielten auch nicht lange an. Auf der anderen Seite forderten die Bremer gleich dreimal einen Elfmeter, als zweimal Serge Gnabry - in der 73. und 75. Minute - und einmal Florian Grillitisch (86.) im Strafraum zu Fall kamen. Zu einem Kontakt mit einem Gegenspieler war es auch jedes Mal gekommen, aber nur bei Grillitsch, den Matija Nastasic buchstäblich umrannte, war er auch ursächlich für den Sturz, während Gnabry doch beide Male sehr bereitwillig zu Boden ging. Der Schiedsrichter, der schon in der 41. Minute einen Strafstoß für Werder gegeben hatte, konnte sich jedenfalls nicht zu einem weiteren Elfmeterpfiff durchringen - gewiss auch deshalb, weil er den Eindruck haben musste, dass die Bremer in dieser Begegnung allzu leicht im gegnerischen Strafraum darniedersinken. Und dann bleibt die Pfeife eben auch einmal stumm, wenn sie es eigentlich nicht sollte.
Quelle: ntv.de