"Collinas Erben" gestresst Und dann stehst du im Strafstoßregen ...
17.10.2016, 10:46 Uhr

Dortmunds Pierre-Emerick Aubameyang schoss sich als einer der fünf Elfmeterfehlschützen in die Liga-Annalen.
(Foto: imago/Jan Huebner)
Vier Platzverweise, noch mehr Aufregung, wildeste Strafstoßorgie seit 30 Jahren: Der 7. Bundesliga-Spieltag bringt den Schiedsrichtern Schwerstarbeit. Doch anders als bei den Elferschützen ist ihre Trefferquote keineswegs historisch schlecht.
Der siebte Spieltag war zweifellos derjenige in dieser Saison, an dem die Schiedsrichter die meiste Arbeit hatten: Insgesamt gab es sage und schreibe zehn Strafstöße, so viele wie zuletzt am vierten Spieltag der Saison 1986/87. Hinzu kamen vier Platzverweise, dazu jede Menge knifflige Szenen. Viele Partien boten also reichlich Gesprächsstoff und jede Menge Aufklärungsbedarf. Bereits die Auftaktbegegnung am Freitagabend zwischen den Bayern-Verfolgern Borussia Dortmund und Hertha BSC (1:1) hatte es in sich: In diesem intensiven und teilweise sehr emotionalen Spiel verwarnte der Unparteiische Patrick Ittrich sechs Akteure, zeigte zweien sogar die Rote Karte und außerdem einmal auf den Elfmeterpunkt.
Vor allem in der Schlussviertelstunde hatte der Referee aus Hamburg alle Hände voll zu tun. Zunächst erkannte er auf Elfmeter für die Gastgeber, als der Berliner Genki Haraguchi im eigenen Strafraum einen Schuss von Shinji Kagawa mit der Hand ablenkte. Eine äußerst schwierig zu beurteilende, weil uneindeutige Situation, denn zum einen hatte Kagawa bei der Ballannahme selbst die Hand im Spiel und hätte sich über einen Pfiff deshalb nicht beschweren können. Zum anderen war der anschließende Schuss aus kurzer Distanz abgegeben worden und Haraguchi hatte sich weggedreht. Seinen Arm hatte er dabei allerdings etwas vom Körper abgewinkelt und außerdem angespannt – was in regeltechnischer Hinsicht für Absicht sprach. Allerdings: Herthas Torwart Rune Jarstein hielt den Elfmeter von Pierre-Emerick Aubameyang, weshalb es keine weiteren Debatten über diese Entscheidung gab.
"Collinas Erben" - das ist Deutschlands erster Schiedsrichter-Podcast, gegründet und betrieben von Klaas Reese und Alex Feuerherdt. Er beschäftigt sich mit den Fußballregeln, den Entscheidungen der Unparteiischen sowie mit den Hintergründen und Untiefen der Schiedsrichterei. "Collinas Erben" schreiben jeden Montag auf ntv.de über die Schiedsrichterleistungen des Bundesligaspieltags. Unser Autor Alex Feuerherdt ist seit 1985 Schiedsrichter und leitete Spiele bis zur Oberliga. Er ist verantwortlich für die Aus- und Fortbildung in Köln, Schiedsrichterbeobachter im Bereich des DFB und arbeitet als Lektor und freier Publizist.
Sechs Minuten vor Schluss kam es jedoch erneut zu Diskussionen, nachdem der Dortmunder Emre Mor kurz vor dem Strafraum der Hertha in zentraler Position über mehrere Meter hinweg von Sebastian Langkamp festgehalten worden war und nach dem Pfiff des Unparteiischen schließlich gegen den Berliner Verteidiger handgreiflich wurde. Dass der Referee so lange mit der Freistoßentscheidung gezögert hatte, war dabei sinnvoll, denn er wollte abwarten, ob sich eine Vorteilssituation ergibt – etwa dadurch, dass der wendige Mor den Ball trotz der Umklammerung zu einem Mitspieler durchsteckt. Dass Langkamp für das unsportliche Festhalten in jedem Fall die Gelbe Karte bekommen würde, stand da bereits fest.
Mor: Gelb zu milde, Rot zu hart?
Emre Mor war das nach der Spielunterbrechung jedoch nicht genug: Er legte beide Hände auf den Oberkörper seines deutlich größeren Gegenspielers und drückte ihn mit aller Kraft weg. Schiedsrichter Ittrich erkannte darin eine Tätlichkeit und stellte den Dortmunder vom Platz. Gut möglich, dass er sich dabei ein bisschen vom theatralischen Fallen des Herthaners beeindrucken ließ. Langkamp bezeichnete seine Reaktion nach dem Abpfiff selbst als "übertrieben" und fügte hinzu: "Es tut mir leid, es war sicher auch keine Rote Karte."

Dortmunds Emre Mor musste sich mächtig anstrengen, um Sebastian Langkamp zu Boden zu schubsen. Der half letztlich freundlich nach.
(Foto: imago/Norbert Schmidt)
Dazu muss man wissen, dass sich eine Tätlichkeit dem Regelwerk zufolge durch "übermäßige Härte oder Brutalität" auszeichnet, die etwa aus einem Stoß, Schlag oder Tritt resultiert. Mor hatte allerdings eher kräftig geschoben als gestoßen. Gäbe es eine Sanktion zwischen Gelb und Rot – beispielsweise die Zeitstrafe –, der Schiedsrichter wäre in dieser Situation wohl dankbar dafür gewesen. So aber blieb ihm im Rahmen seines Ermessensspielraums nur die Wahl zwischen einer Verwarnung, die recht milde gewesen wäre, und dem Feldverweis, der zweifellos recht hart war – allerdings nicht eindeutig falsch.
So unstrittig wie unumgänglich war dafür die Rote Karte gegen Valentin Stocker kurz vor dem Schlusspfiff. "Ein Spieler, der im Kampf um den Ball von vorne, von der Seite oder von hinten mit einem oder beiden Beinen in einen Gegner übermäßig hart hineinspringt oder die Gesundheit des Gegners gefährdet, begeht ein grobes Foul", heißt es in den Regeln – und auf ein solches grobes Foul steht der Feldverweis. Mit seiner rüden Grätsche von hinten gegen Matthias Ginter hatte der Berliner geradezu ein Lehrbuchbeispiel für dieses Vergehen abgeliefert und deshalb zu Recht vorzeitig Feierabend.
Pech und Glück für den HSV
Gezwungenermaßen früher zum Duschen ging auch der Hamburger Verteidiger Cléber beim torlosen Remis seiner Mannschaft in Mönchengladbach, denn Schiedsrichter Wolfgang Stark schickte ihn bereits nach 25 Minuten mit der Roten Karte vom Feld. Der Brasilianer hatte zuvor einen Zweikampf mit dem davoneilenden Lars Stindl geführt und dieser war in aussichtsreicher Position zu Boden gegangen. Ob es einen dafür ursächlichen Kontakt gegeben hatte und ob dieser Kontakt außerhalb oder innerhalb des Strafraums vonstattengegangen war, ließ sich selbst mit der Zeitlupe nicht zweifelsfrei klären.
Der Unparteiische und sein Assistent verständigten sich jedenfalls auf einen Strafstoß, den André Hahn jedoch verschoss. Dass es obendrein auch einen Feldverweis gab, lag daran, dass Stindl eine offensichtliche Torchance hatte und Clébers "Notbremse" nicht im Kampf um den Ball geschehen war. Nur wenn das anders gewesen wäre, hätte es lediglich eine Verwarnung gegeben.

Gezeichnet: André Hahn nach einer rotwürdigen Attacke von HSV-Keeper René Adler.
(Foto: imago/Norbert Schmidt)
Glück hatte der HSV dann allerdings, dass nicht auch sein Torwart René Adler vom Platz flog. Denn der war kurz vor der Halbzeitpause, als das Spiel wegen einer Abseitsstellung bereits unterbrochen war, beim Sprung zum Ball mit dem Knie und dem Fuß voraus in Hahn gerauscht und hatte diesen dabei im Gesicht und in der Magengegend getroffen. Schiedsrichter Stark sah darin offenbar eher einen unglücklichen Zusammenprall infolge von Adlers Sprungbewegung als ein brutales Spiel – eine zweifelhafte Einschätzung.
Fragwürdig war auch der zweite – und ebenfalls verschossene – Elfmeter für die Hausherren, den es in der 59. Minute gab. Denn der Kontakt von Douglas Santos gegen Ibrahima Traoré war erstens vergleichsweise geringfügig und zweitens nicht die Ursache dafür, dass der Mönchengladbacher hinfiel. Das ließ allerdings erst die Zeitlupe deutlich werden, die dem Referee nun mal (noch) nicht zur Verfügung steht.
Referees stechen Elferschützen aus
In Köln haderten derweil die Gäste aus Ingolstadt mit dem Unparteiischen Tobias Welz. Dem muss man allerdings nur einen Fehler wirklich ankreiden – nämlich den, in der 71. Minute nicht auf Strafstoß für die Schanzer entschieden zu haben. Da hatte Matthew Leckie aus spitzem Winkel abgezogen und wurde unmittelbar darauf von Dominique Heintz mit gestrecktem Bein getroffen. Dass sich der Kölner Anthony Modeste vor seinem Tor zum 1:0 hauchdünn im Abseits befand, war dagegen mit menschlichem Auge in der Realgeschwindigkeit nicht wahrzunehmen und sollte dem Schiedsrichterteam deshalb auch nicht zum Vorwurf gemacht werden.
Der Strafstoß für die Gastgeber in der 38. Minute wiederum, den Modeste zum 2:0 verwandelte, war vollauf berechtigt. Tobias Levels hatte zuvor Yuya Osako eindeutig festgehalten. Manche wollten zwar bei Osakos vorangegangener Ballannahme ein Handspiel gesehen haben, doch Absicht im regeltechnischen Sinne lag hier nicht vor: Weder gab es eine Bewegung mit dem Arm zum Ball noch eine Vergrößerung der Körperfläche oder eine unnatürliche Haltung von Arm und Hand. Deshalb war es korrekt vom Referee, hier nicht abzupfeifen.
Gleich drei Elfmeter verhängte Schiedsrichter Felix Brych in der Sonntagspartie zwischen Mainz 05 und Darmstadt 98 (2:1). Den ersten gab es dabei für die Gäste, weil Stefan Bell nach einer Flanke in den Mainzer Strafraum Antonio Colak heruntergedrückt haben soll. Ein Kontakt, der aus dem Blickwinkel des Referees vermutlich heftiger aussah, als er tatsächlich war. Die Entscheidung war jedenfalls entschieden zu hart, vor allem, wenn man Brychs bis dahin nicht eben kleinliche Linie bei der Zweikampfbewertung zugrundelegt.
Der zweite Elfmeter – diesmal für die Gastgeber – resultierte aus einem Beinstellen von Aytac Sulu gegen Yunus Malli und hatte seine Berechtigung. Der dritte, der wiederum den Darmstädtern zugesprochen wurde, entsprang einem Handspiel von Niko Bungert. Diesem war der Ball zwar aus allernächster Nähe an den Arm geköpft worden. Doch das Kriterium, dass sich dieser Arm auf Kopfhöhe befand, wog für den Unparteiischen schwerer. Zweifellos eine strenge Regelauslegung, die von den Schiedsrichtern allerdings auch schon in der Vergangenheit genau so praktiziert wurde.
Von den insgesamt zehn Strafstößen, die es an diesem Spieltag gab, waren letztlich acht entweder eindeutig korrekt, zumindest vertretbar oder nicht zweifelsfrei aufzuklären. Lediglich bei zwei Elfmetern – nämlich beim zweiten Strafstoß für Mönchengladbach und beim ersten für Darmstadt – lagen die Referees klar daneben. Damit hatten die Unparteiischen eine deutlich bessere Trefferquote als die Elfmeterschützen. Von denen vergaben nämlich nicht weniger als fünf, also genau die Hälfte. Ein neuer Bundesliga-Rekord.
Quelle: ntv.de