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Nichts für Wallander-Fans Mit Mankell in die "Tiefe"

Oktober 1914, vor der Südostküste Schwedens. Kapitän Lars Tobiasson-Svartman ist kein typischer Schiffsführer, er ist Seevermesser. Als unumstritten bester seines Fachs erhält vom Marinestab den Geheimauftrag, das Fahrwasser der Küstenregion neu zu vermessen, um im Kriegsfall Ausweichmöglichkeiten für schwedische Schiffe zu kartieren.

Lars Tobiasson-Svartman ist ein Meister der Distanz, ein Zauberer der Entfernungen. "Seine frühesten Erinnerungen handelten von Entfernungen. Zwischen ihm selbst und seiner Mutter, zwischen seiner Mutter und seinem Vater, zwischen Unruhe und Freude. Sein ganzes Leben handelte von Entfernungen, davon, sie zu messen, zu verkürzen und zu verlängern. Er war ein einsamer Mensch, der ständig nach neuen Entfernungen suchte, um sie zu bestimmen oder abzulesen." So kartographiert er sein Privatleben und lässt Nähe nicht einmal in der eigenen Ehe zu.

Wenn Lars Tobiasson-Svartman hin und wieder die Nähe zu sich selbst verliert, klammert er sich an sein Allerheiligstes, ein Messinglot aus dem 18. Jahrhundert. Er drückt es fest an seinen Körper und lotet sein Seelenleben aus. Dann träumt er seinen heimlichen Traum, einmal keinen Grund mehr zu spüren, wenn er das Lot hinab lässt, um die größte aller Tiefen zu finden. Dabei sucht er nach dem "unbekannten Grund in mir, nach nicht vermessenen Tiefen, unerwarteten Hohlräumen."

In einen inneren Strudel gerät er jedoch, als er während der Vermessungsarbeiten auf einer scheinbar verlassenen Schäre eine Frau trifft. Nach dem ersten Blick in die klaren Augen von Sara Fredrika ist er verloren. Lars Tobiasson-Svartman verlässt sein Fahrwasser und kennt fortan nur noch ein Ziel: Immer wieder zu ihr zurückzukehren. Dabei versinkt er in einem Sog aus Lügen, Verrat und Mord.

Mit diesem Buch wird Mankell ganz sicher in die Reihe der nordischen Klassiker aufgenommen. Er beschreibt eine Seelenreise wie wir sie von Ibsen, Strindberg oder aus Bergman-Filmen kennen. Der Leser wird hinabgezogen in die Tiefe des menschlichen Abgrunds, er spürt die Kongruenz von Liebe und Hass. Er bewahrt sich aber eine Distanz zu Lars Tobiasson-Svartman schon deshalb, weil der Name – klug gewählt – ein Stolperstein im Lesefluss bleibt.

Hier haben wir es mit einem Mankell zu tun, der – so scheint es – noch nie etwas von einem Kommissar Wallander gehört hat. Beide Erzählweisen liegen so weit auseinander, dass es Wallander-Fans schwer haben werden mit diesem Buch. Das macht aber nichts. Ich rate ihnen, Ystad ruhig einmal zu verlassen und sich schöner, tiefer Literatur zu nähern. Nicht dass ich die Wallander-Romane nicht mag, oh nein, sie sind großartig. Mankell hat gewusst, dass er sich wie Shakespeare dem Krimi bedienen muss, um gesellschaftskritischen Stoff an die breite Leserschaft zu bringen. Wir dürfen ihm dankbar dafür sein. Alle Wallander-Fans sollten sich die Frage selbst beantworten, ob sie Geschichten über Ausländerfeindlichkeit, Wirtschaftskriminalität oder Gewalt gegen Frauen ohne den Meister des inszenierten Todesfalls und seinem Protagonisten aus Schonen gelesen hätten. Sehen Sie!

Und wenn Mankell ein großes Buch schreiben will, vielleicht über eine Geschichte, in der er unser aller Seelenleben auslotet, braucht er keinen Kurt Wallander mehr. Er nimmt einen Lars Tobiasson-Svartman, der uns Seite um Seite, Satz um Satz an unsere eigenen kleinen und großen Lügen erinnert. Danke, Henning Mankell, für dieses schöne Buch!

Peter Poprawa

Henning Mankell, "Tiefe", Zsolnay-Verlag, 365 Seiten, 21,50 Euro

Quelle: ntv.de

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