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Die Geschichte eines "ehrlichen Kriminellen"Alles eine Frage der "Sibirischen Erziehung"

02.12.2013, 08:43 Uhr
imageVon Thomas Badtke

Unter Stalin werden Kriminelle in den Südwesten des Landes verbannt. Dort herrscht jeder Verbrecherclan über seinen eigenen Bereich. Der ärmste unter ihnen ist auch der gefürchtetste: der Clan der Sibirer. Kolima gehört zu ihnen, das ist seine Geschichte.

"Bei unseren Vorfahren, den freien Jägern und Kriegern, bei den großen Wäldern im Norden, bei den Flüssen Djener und Amur, beten wir zu dir, geheiligte Maria, Mutter Gottes, voll der Gnade. Erhöre die Worte dieses deines demütigen Dieners. Vergib uns ehrlichen Kriminellen für die Sünden, die zu begehen wir gezwungen sind. Stehe uns bei in unserem Kampf gegen die machtgierigen Politbürokraten und deren Handlanger: Polizisten und Soldatenköter und all die anderen uniformierten Teufel. Oh du gnädigste Mutter des gnädigsten Gottes, segne unsere Waffen. Lass den Stahl unserer Messer härter werden. Lenke unsere Kugeln und weihe uns, sodass unser Zorn der deine werden möge ..." Gebannt lauscht der junge Kolima den Worten seines Großvaters Kuzja.

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Wenn Großvater Kuzja erzählt oder Kolima etwas zeigt, hört und schaut der Junge genau hin. (Foto: Cattleya)

"Wir müssen alle lebenden Kreaturen respektieren - mit Ausnahme der Polizei, Leute, die für die Regierung arbeiten, Banker, Wucherer und jedem, der die Macht des Geldes nutzt, um den einfachen Menschen zu schaden. Diesen Menschen etwas wegzunehmen, ist erlaubt. Aber vergiss nicht, wer zu viel will, ist verrückt. Ein Mann kann nicht mehr besitzen, als was sein Herz auch lieben kann." Ein Ratschlag, den Kolima beherzigt - und er beginnt nach den Regeln der "sibirischen Erziehung" zu leben.

Kolima wächst in der Stadt Bender, rund 20 Kilometer entfernt von Tiraspol, in Transnistrien auf, im Viertel der Sibirer, zu deren Clan er gehört. Die Sibirer sind arm, aber gefürchtet. Sie leben nach einem strengen Ehrenkodex, vielen Regeln, nicht alle kommen dem kleinen Jungen logisch vor. So muss beispielsweise ein Mann, wenn er nach Hause kommt, zuerst den sogenannten roten Winkel aufsuchen, in dem die Ikonen der Familie und Fotos der verstorbenen Verwandten stehen. Dort muss er dann seine Pistole unter einem Kruzifix ablegen - und auch nur er selbst darf sie von dort wieder aufnehmen.

Der hungrige Wolf

Auch ist es ein Sakrileg für einen ehrlichen Sibirer, Geld in seinem Haus aufzubewahren. Selbst wenn es gestohlen ist. Und vor allem: In der Gemeinde der Sibirer ist kein Platz für Drogen. "Wir Sibirer werden unsere Hände keinesfalls mit diesem Zeug beschmutzen", sagt Großvater Kuzja zu Kolima und blickt ihm dabei tief in dessen weit aufgerissene, wissensdurstige Augen. Kolima hat verstanden.

Bei der Geschichte seines Großvaters über einen jungen Wolf ist das anders: Aus Angst, im Rudel zu verhungern, verlässt der junge Wolf es und begibt sich zu den Menschen. Nach und nach vergisst er, dass er einst ein Wolf gewesen ist. Als er dann Jahre später mit seinem Herren auf der Jagd ist, trifft er den alten Leitwolf wieder. Dieser liegt im Sterben. Seine letzten Worte treffen den jungen Wolf direkt ins Herz: "Ich kann glücklich sterben, weil ich mein Leben als Wolf gelebt habe. Hunger kommt und geht, aber die Würde, die man verloren hat, bekommt man nie zurück.“ Als Junge versteht Kolima die Geschichte noch nicht, als Jugendlicher schon.

Sein bester Freund Gagarin wird nämlich bei einem gemeinsamen Überfall auf ein Versorgungsfahrzeug der Armee gefasst und muss für sieben Jahre ins Gefängnis. Als er zurückkehrt, ist er nicht mehr der Gagarin von früher. Etwas scheint in ihm zerbrochen. Gagarin will um jeden Preis reich werden, aus dem kriminellen Ghetto, der Unterstadt, ausbrechen und für immer verschwinden.

Wenn Freunde zu Todfeinden werden

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Gagarin hält nichts von der "sibirischen Erziehung". Alles was er will, ist Reichtum. (Foto: Ascot Elite)

Noch hält die Freundschaft der beiden Jugendlichen. Erst als die junge Arzttochter Xenja in ihr Leben tritt, bekommt das Band zwischen den beiden Freunden Risse. Xenja ist eine "Gottgewollte". So nennen die Sibirer Menschen, die geistig krank, behindert oder verrückt im Kopf sind. Für den Clan der Sibirer hat der Schutz der "Gottgewollten" oberste Priorität, auch wenn es sie dabei selbst das Leben kostet. Kolima und Gagarin empfinden beide etwas für Xenja. Aber nur Kolima weiß, dass er Xenja nicht lieben darf, sondern nur beschützen. Er sticht sich kurz darauf sein erstes Tattoo, auch eine Tradition der Sibirer, deren ganzes Leben auf ihren Körpern verewigt wird. Kolimas Unterarm schmückt von da an das Symbol für "unmögliche Liebe".

Gagarin pfeift mittlerweile immer mehr auf die ganzen Regeln der "sibirischen Erziehung". Er trinkt, nimmt Drogen, spricht mit den verhassten "Soldatenkötern". Kolima muss mit ihm brechen - kurz darauf wird Xenja vergewaltigt aufgefunden. Sie spricht nicht mehr, starrt nur noch ins Leere. Gebrochen. Nun ist es an Kolima, den Schuldigen finden. Großvater Kuzja gibt ihm diesen Auftrag und die passende Waffe. Kolima macht sich auf die Suche. Den Rat seiner Mutter, er solle vorsichtig sein, beantwortet er gelassen: "Mir wurde beigebracht, wie man sich durchs Leben kämpft. Ich weiß Bescheid." Alles eine Frage der "sibirischen Erziehung".

Bodenständig, ohne Schischi

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"Sibirische Erziehung" ist auf DVD und Blu-ray bei Ascot Elite erschienen. (Foto: Ascot Elite)

Nikolai Lilin hat sie bekommen. Auf seinem Erlebnisbericht "Sibirische Erziehung" beruht der gleichnamige Film des Oscar-prämierten italienischen Regisseurs Gabriele Salvatores ("Mediterraneo"). Nikolai (Kolima) wird vom litauischen Schauspieler Arnas Fedaravicius verkörpert, in der Rolle des Großvaters brilliert Hollywood-Ikone John Malkovich. Und allein wegen dessen Präsenz, seines Charismas, ist "Sibirische Erziehung" ein absolutes Muss, einer der Top-Independent-Filme dieses Jahres.

Der Film macht zudem Lust auf das Buch Lilins. Der lebt mittlerweile als Tattoo-Künstler in Italien. Seine Schreibe ist zwar einfach und alles andere als literarisch hochwertig, aber er erzählt ungekünstelt und direkt eine Geschichte über Respekt, Mut, Hingabe und Freundschaft, eine Geschichte über eine Gemeinschaft, die sich jedweder Macht widersetzt, eine Geschichte aus dem noch weitgehend unbekannten Herzen Osteuropas.

Der Film "Sibirische Erziehung", der jetzt bei Ascot Elite auf DVD und Blu-ray erscheint, ist kein Mafia-Epos à la "Der Pate". Zwar erinnern die ehrenhaft anmutenden Regeln des Sibirer-Clans an die in den Puzo-Büchern und Coppola-Filmen zum Teil überhöhten Ideale der italienischen Mafia. "Sibirische Erziehung" ist aber vor allem eines: bodenständig. Ohne Chichi. Keine Anzugträger, keine auf Hochglanz polierten Schuhe. Stattdessen billige Alltagsklamotten, Schmutz und Dreck.

Das alles sorgt für eine faszinierende Atmosphäre, die den Zuschauer von der ersten Minute bis zum Ende des Abspanns gefangen hält. "Sibirische Erziehung" ist ein ungefiltertes Porträt über "ehrliche Kriminelle", die noch ehrenwerte Vorsätze haben und die auch kultivieren. Salvatores neues Werk ist ein ungeschliffen daherkommendes, filmisches Juwel!

Ab Ende dieser Woche finden Sie die wöchentlichen DVD-Rezensionen jeweils Freitagmorgen auf n-tv.de.

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Quelle: ntv.de

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