Casting X.0 Der neue Kuschelfaktor
21.08.2010, 05:53 Uhr
Suchen den "X Factor": Brönner, Connor, Glueck.
(Foto: dpa)
Ein Glück aber auch! Die Sommerpause ist vorbei. Im Fernsehen beschert uns das die Rückkehr der Castingshows. Und nicht nur das! Mit "X Factor" haben wir nun sogar ein - zumindest für Deutschland - komplett neues Format auf der Mattscheibe. Und? Lohnt sich das?
Schade, dass man Texte hier nicht vertonen kann. Sonst würden wir jetzt diese Kritik mit den Klängen von "Carmina Burana" einleiten. Das gäbe ihr das gewisse pompöse Etwas. Ganz so wie bei der Pilot-Sendung von "X Factor" geschehen. Bekanntlich nicht irgendeine, sondern - den Machern zufolge - DIE neue Casting-Show im deutschen Fernsehen.
Entsprechend hoch ist der Anspruch. Im Gegensatz zum internen Konkurrenzformat der RTL-Sendergruppe reicht es bei "X Factor" nicht mehr aus, dass Deutschland den Superstar sucht. Nein, hier sollen gar "Weltkarrieren" geschmiedet werden (einmal "Carmina Burana" einspielen, bitte). Tja, hätte man das Menowin Fröhlich und Mehrzad Marashi nur mal eher gesagt. Sie müssten jetzt bestimmt nicht vor besoffenen Landsleuten am Ballermann herum hampeln oder ihre Tournee durch deutsche Städte wegen Desinteresse an ihrem Superstartum absagen. Wer zu früh kommt, den bestraft eben das Leben.
Woher die Show ihr Selbstbewusstsein nimmt? Nun ja, es gibt sie bereits in 16 Ländern. Und sie hat vor vier Jahren in England mit Leona Lewis schon einmal einen "Weltstar" hervorgebracht. Zumindest, wenn man eine Sängerin mit bisher zwei Alben und einem (in Worten: einem) internationalen Nummer-1-Hit ("Bleeding Love") so bezeichnen will.
"Bootcamp" statt "Recall"
Klar, das Casting-Rad neu erfunden hat "X Factor" nicht. Wie auch? Nach DSDS, Popstars, Star Search und Co ist die Luft für Innovationen in diesem alten Rein-Raus-Spielchen – rein in die oder raus aus der Schar der Hoffnungsträger - dünn. Und so findet man dann auch gleich beim ersten Schauen viele altbekannte Elemente: Die einleitenden Kurzporträts der Kandidaten, die Zwischenschnitte auf mitfiebernde Angehörige, während sich ihre Liebsten mehr oder weniger zum Horst machen, und nicht zuletzt so manche ach so anrührende Schicksalsstory ("Ich wurde gemobbt") - all das kennt man bereits zu Genüge etwa von DSDS.
Doch, um bei DSDS zu bleiben, es gibt auch Unterschiede. Und das nicht nur, weil die Kandidaten statt auf einem Stern auf einem "X" Aufstellung nehmen und statt in den "Recall" ins "Bootcamp" einziehen. Da wären zum einen die konzeptionellen Abweichungen: "X Factor" begibt sich gleich in drei Kategorien auf Starsuche (Solosänger 16 – 24 Jahre, Solosänger ab 25 Jahre, Gesangsgruppen). Und am Ende sollen die Juroren zu "Mentoren" ihrer Favoriten werden und für deren Erfolg kämpfen. Einen Alleinvertretungsanspruch auf den "richtigen" Geschmack à la Dieter Bohlen soll es also nicht geben.
Kein Bohlen-Faktor
Apropos Bohlen – Unterschiede gibt es zum anderen in der Aufbereitung: Dass "X Factor" wesentlich kuscheliger als DSDS daherkommen will, ist unschwer zu erkennen. Markige Sprüche – Fehlanzeige. Dünnbrettbohrer und Vollpfosten – um im Bohlen-Jargon zu bleiben – werden auch bei "X Factor" gezeigt. Natürlich. Denn, mal ehrlich, worauf beruht der Erfolg der Casting-Shows, wenn nicht vor allem auf den Knalltüten? Aber: Die Vorführung der Möchtegerns fällt zumindest in der ersten Sendung dezent aus. Nicht nur weil "X Factor" der Bohlen-Faktor fehlt, sondern auch weil die Produzenten der Show sich mit Nachtritten zurückhalten.
Den wirklich größten Unterschied könnte es jedoch erst noch geben. Dann nämlich, wenn Jury-Mitglied George Glueck diese Äußerung ernst gemeint hat: "Etwas Schräges kommerziell zu machen, ist viel leichter als etwas Kommerzielles schräg." Ein Satz, der Dieter Bohlen so wohl nie über die Lippen kommen würde. Und tatsächlich kam die erste "X Factor"-Sendung ganz ohne Songrezitationen von Whitney Houston, Lionel Richie oder Stevie Wonder aus. Stattdessen schafften es ein womöglich unfreiwillig Homoerotik versprühender Verwaltungs-Azubi mit "Crazy" von Gnarls Barley und eine auch nach kulturell aufgeschlossenen Maßstäben durchgeknallte Japanerin mit einer heimischen Weise in den Recall, ääh, das Bootcamp. Respekt!
Ja, man konnte sogar ein bisschen was lernen bei der "X Factor"-Premiere: Eben, dass so manche Japaner nach hiesigen Standards nicht nur im Comic so wirken, als ob sie nicht mehr alle Latten am Zaun hätten. Dass es auch in echt russischstämmige Mädchen gibt, die die von ihnen existierenden Klischeevorstellungen nur allzu gern zu erfüllen scheinen. Und dass Joe-Cocker-Typen offenbar niemals aussterben.
"Willst Du mich heiraten?"
Aber auch sonst war eigentlich alles drin: Ein Schönling und potenzieller Publikumsliebling, der Jurorin Sarah Connor gleich mal Pippi in die Augen trieb, Zickenterror und sogar ein Heiratsantrag. Wofür es bei DSDS in der letzten Staffel schon so einige Mottoshows gebraucht hat, legt "X Factor" gleich bei seiner Erstausstrahlung hin. Nochmal Respekt!
Schon jetzt ist klar: Sarah Connor, neben der außer "Musikmogul" Glueck auch noch Jazz-Trompeter Till Brönner in der Jury sitzt, ist die Chefin im Ring. Erstens weil die anderen beiden in der Zielgruppe kaum einer kennt. Zweitens weil bei der einstigen "Sarah & Marc in Love"-Protagonistin in den vergangenen Jahren nicht nur die Ehe, sondern auch die Karriere bergab ging, und sie jedwede Form von Publicity gut gebrauchen kann. Und drittens nicht trotz, sondern gerade wegen ihres Hangs, schnell mal zu flennen. Connor gibt "X Factor" den Emo-Faktor, der die Sendung eben gerade erst zum DSDS-Gegenmodell macht.
Konkurrenz von der Konkurrenz
Ob das funktioniert, muss sich zeigen. Man mag den "Krawall" bei DSDS kritisieren – der Erfolg gab der Sendung, wenngleich natürlich nicht den von ihr gekrönten "Superstars", bislang immer Recht.
Den direkten Vergleich mit der internen Konkurrenz muss "X Factor" ohnehin erst einmal nicht fürchten – DSDS geht erst im Frühjahr wieder an den Start. Stattdessen wird das neue Format wohl vor allem am Dinosaurier der Casting-Shows gemessen werden. Schließlich schickte ProSieben nahezu zeitgleich zum neunten Mal "Popstars" auf die Reise. Statt dem "X Factor" erkunden Detlef D! Soost und seine Mitstreiter, darunter Ex-DSDS-Juror Thomas Stein, das Doppel-X-Chromosom. "Girls forever" lautet das Motto bei der Suche nach "der besten Mädchenband, die es je gab".
Let me entertain you
Schon lustig, den marktschreierischen Wettstreit darum, wer nun die Casting-Hoheit für sich beanspruchen kann, zu beobachten. Während man in "X Factor" nicht müde wurde, die Preise und Auszeichnungen der Juroren herunter zu beten, betonte Soost in seiner Auftaktsendung gefühlte 87 mal, dass sie ja die "definitiv erfahrenste Jury" im deutschen Fernsehen seien.
Lustig auch, dass längst der Casting-Inzest begonnen hat. Die bei "Popstars" vorgestellte und gescheiterte 21-jährige Yasemin mit ihrem 33 Jahre älteren Freund Peter (Spitzname "Hannelore") etwa versuchte bereits in der letzten DSDS-Staffel ihr Glück. Wusste man das bei ProSieben nicht oder wollte man das nur nicht erwähnen?
Nicht so lustig ist, dass in beiden Sendungen den Teilnehmern wieder einmal das Blaue vom Himmel versprochen wird. "Ihr wisst, dass die nächsten Minuten euer Leben verändern könnten", fragte Sarah Connor bedeutungsschwanger einige ihrer Schützlinge. Nach rund zehn Jahren Casting-Show-Geschichte in Deutschland klingt das leider nur noch albern. Ehrlicher wäre die Ansage: Genießt den Ruhm für den Augenblick. "Let me entertain you" statt "Carmina burana".
"X Factor" - ab 24. August 2010, immer dienstags, 20.15 Uhr bei VOX
Quelle: ntv.de