Panorama

Südkoreaner stehen auf "Dinner Porn" Zusammen isst man weniger allein

Wenn die "Diva" abends ihre Webcam anschaltet und drei Stunden lang schlabbert und schluckt, was das Zeug hält, schauen Tausende Koreaner gebannt zu. Die junge Frau ist die Königin eines bizarren Trends, der die Menschen da abholt, wo sie am einsamsten sind: beim Essen.

Immer wieder stößt die "Diva" ihre langen Stäbchen in die braune Flüssigkeit. Rein, raus, rein, raus, rein, raus, eine gefühlte Ewigkeit lang. Und dabei immer dieses satte Schmatzen: Wenn man die Augen schließt, könnte man an ein Geräusch wie aus fernen Kinderzeiten denken, als man nach starken Regenfällen über aufgeweichte Äcker rannte und dabei bis zu den Knien im Schlamm versank. Oder aber an den Sound eines schlabbrigen Blowjobs in einer x-beliebigen Pornoproduktion. Nichts von beidem stimmt. Die Webcam zeigt einfach nur eine hübsche junge Koreanerin, die ihre Nudeln enervierend lang in brauner Soße wendet. Und Hunderttausende sehen dabei zu.

"Dinner Porn" heißt der nach europäischen Maßstäben verstörend anmutende neue Trend, der gerade den südlichen Teil der koreanischen Halbinsel überflutet, auf Englisch. Das Prinzip ist denkbar einfach: Junge Frauen oder Männer filmen sich selbst beim Essen und stellen das Ganze als Livestream ins Netz.

Mit Schmuddelfilmchen haben die selbstgedrehten Videos auf den ersten Blick nichts zu tun, schließlich sieht der Zuschauer nicht einmal nackte Haut, von Sex ganz zu schweigen. Allerdings befriedigen die oft stundenlangen Übertragungen ähnlich voyeuristische Bedürfnisse wie ein klassischer Porno: Während die Protagonisten ungeheure Mengen an Essen in sich hineinschaufeln, zeigen die Kommentare bei Youtube, dass die Zuschauer irgendwo zwischen Ekel ("Einfach nur gruselig"), Scham ("Wie bin ich hier nur gelandet?"), Geilheit ("Auf merkwürdige Art turnt mich das an") und morbider Faszination ("Überlegt mal, wie viel die scheißen muss") hin- und herpendeln.

Zierliche Rotschöpfe und gewaltige Kalorienberge

Eine Mischung, die zieht: Auf der südkoreanischen Streamingplattform Afreeca kann man jeden Tag Hunderten Koreanern beim Essen zusehen. Nur die "Stars" der Szene veröffentlichen ihre Videos allerdings im Anschluss auch auf Youtube - und verdienen damit Geld. Wenn man Park Seo-Yeon glaubt, der unumstrittenen und eingangs erwähnten Königin des "Dinner Porn", sogar nicht zu knapp. Mehr als 7000 Euro scheffelt die selbsternannte "Diva" dafür, dass sie sich jeden Abend an ihren übervollen Küchentisch setzt und drei Stunden lang schlemmt, während sie mit ihren Fans chattet.

Ihren Job in einem Beratungsunternehmen hat Seo-Yeon mittlerweile an den Nagel gehängt, um sich voll und ganz aufs Kochen und Essen der Mega-Mahlzeiten konzentriere n zu können - allein für die Zutaten gibt die "Diva" im Monat bis zu 2500 Euro aus. Die Mengen, die der zierliche Rotschopf in einer Sitzung verschlingt, sind schier unvorstellbar: Zwölf Hamburger, zwölf Spiegeleier und drei große Schüsseln voll mit scharfem Kimchi würden auch einen Kraftsportler im Aufbautraining an die Grenzen bringen - die "Diva" schaufelt den Kalorienberg ganz locker in sich hinein und bleibt im Anschluss noch eine ganze Zeit online, um Gerüchte zu entkräften, sie würde später heimlich die Klobrille umarmen, um so das Dinner zu entsorgen.

Anziehung durch Abscheu

Hemmungslos Schlemmen ohne Reue, und das auch noch spätabends, das könnten sich nur wenige Leute leisten, sagte Seo-Yeon unlängst in einem Interview. Diese armen Seelen würden "stellvertretend genießen, wenn sie ihr dabei zuschauen dürften, so die "Diva". Auch wenn diese krude Erklärung tatsächlich auf einige ihrer Fans zutreffen sollte, die Hauptgründe für Seo-Yeons Popularität und die ihrer Mitstreiter sind dann wohl doch ganz anders gelagert.

Der erste ist reichlich banal: Der Spannungsbogen, den die "Diva" rund um jede Mahlzeit aufbaut, ist klug gemacht, nebenher antwortet sie entspannt auf die Chat-Anfragen ihrer Zuschauer - kurz, Seo-Yeon kombiniert Showtalent mit der passenden Nische. So wie der bekannteste männliche "Porn"-Darsteller: Der "Kredithai" besticht neben seinem gewaltigen Körperumfang vor allem durch ein irres Lachen in Dauerschleife und positioniert sich damit genau auf der Gegenseite der "Diva" - Anziehung durch Abscheu.

So banal der erste Grund für die Popularität eines derart abseitigen Formates wie "Dinner Porn" auch wirken mag, so tief lässt der zweite in die Abgründe des südkoreanischen Alltags blicken. Zwölf der 50 Millionen Einwohner leben in Single-Haushalten, Tendenz steigend. Woher das kommt, kann niemand genau sagen - wohin es führt, schon. In Kombination mit einer fast schon obsessiven Leidenschaft für elektronische Medien sind viele Einwohner des am besten vernetzten Landes der Welt schlicht und ergreifend sehr einsam. "Dinner Porn" erzeugt die Illusion, zumindest bei einer der sozialsten menschlichen Aktivitäten überhaupt Gesellschaft zu haben. Zusammen isst man eben weniger allein.

Quelle: ntv.de

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