Wunsch und Wirklichkeit Kein Chaos auf Lampedusa
16.02.2011, 14:05 UhrDie Behörden bleiben tatenlos. Der Verdacht drängt sich auf, dass hier jemand bewusst darauf spekuliert hat, dass Panik und Chaos auf Lampedusa ausbrechen. Doch das ist nicht passiert. Das liegt vor allem an der entspannten Haltung der Insel-Bewohner.
Es ist ein schwacher Trost, dass ganz Europa wieder einmal gebannt auf das kleine Inselchen vor der afrikanischen Küste schaut - die offiziell 4500 Lampedusaner hatten gehofft, dass irgendjemand den Streik der Inselfischer wahrnehmen würde, gegen die Teuerung des Dieselkraftstoffes, der viele von ihnen zum Aufgeben zwingt. Stattdessen wieder einmal die Flüchtlinge. Einmal nicht aus Libyen kommend, wie gewöhnlich in den letzten Jahren, sondern aus Tunesien.
Die Flüchtlinge aus Libyen waren beileibe keine Einwohner des Gaddafi-Staates. Nein, jene kamen von weit her, aus dem Niger, aus Äthiopien, aus Ägypten, angeschleppt von den Menschenhändlern. Sie kamen als ganze Familien, mit Sack und Pack. Nachdem Italiens Regierungschef Silvio Berlusoni mit Muammar al-Gaddafi einen für Libyen sehr vorteilhaften Hilfsvertrag abgeschlossen hat, kamen sie nicht mehr. Noch kontrolliert der Militärdiktator sein Land perfekt. Bis vor kurzem war das auch der Fall bei Ben Alis Tunesien.
Der Wind der Demokratie aber hat die Kontrollen in den Häfen hinweg gefegt, und die Jugend Tunesiens möchte nicht am Aufbau Tunesiens teilnehmen, sondern die neugewonnene Freiheit nur zu einem nutze: zur Flucht. Ganz fremd sollte uns Deutschen das ja nicht sein. So kommen junge, kräftige Männer, die unisono in die Mikros erzählen, dass sie Armut und Hoffnungslosigkeit entflohen sind, dass arbeiten wollen, Geld verdienen und sich integrieren.
Im Auffanglager organisieren sie einen eigenen Ordnungsdienst, während die Polizei völlig untätig zuschaut. Der Verdacht drängt sich auf, dass hier jemand bewusst darauf spekuliert hat, dass Panik und Chaos auf der Insel ausbrechen könnten, wenn man die Tore des Flüchtlingscamps einfach sperrangelweit aufmacht - der Verdacht, dass jemand still und heimlich auf eine willkommene Ablenkung von Sex-Skandalen und bevorstehenden Prozessen gehofft haben könnte. Doch das ist nicht passiert.
Aber seltsam ist es schon, die Insel voller Tunesier und Polizisten, Carabinieri und Zoll-Beamter zu sehen, die vollkommen aneinander vorbei schauen, als ob es die einen für die anderen nicht gäbe. Seltsame Welt, wenn man an den letzten Ansturm der Bootsflüchtlinge vor zwei Jahren denkt, als die Polizei regelrechte Hatzjagden auf die Illegalen veranstaltete und jeder ins Auffanglager gepfercht wurde - auch mehr als 2000 Leute, wie heute.
Die Klugheit der Tunesier hat den Wunsch nach Chaos auf Lampedusa nicht Wirklichkeit werden lassen. Dazu beigetragen hat sicher auch die entspannte Haltung der Einwohner. Sie kennen die Tunesier seit Generationen, früher lebte man noch viel enger zusammen, vor der Ali-Diktatur. Hier gibt es nicht wenige Familien, die nach Tunesien heirateten und umgekehrt. Denn Tunesien und Libyen sind die natürlichen Küsten der südlichsten Inseln Italiens.
Europa täte gut daran, sich die Gelassenheit der Lampedusaner zum Vorbild zu nehmen. Wenn Diktaturen zusammen brechen, kommen die Menschen in Bewegung. Viele von ihnen wollen nach Europa kommen. Sicher, viel Arbeit gibt es nicht zu verteilen. Auch in Italien beträgt die Jugendarbeitslosigkeit 30 Prozent. Das ist kaum besser als in den arabischen Ländern. Hierzulande wie am südlichen Ufer des Mittelmeers muss die Familie unterstützen. Aber die Immigrationsströme sind natürliche Erscheinungen in der gesamten Menschheitsgeschichte. Wer sich integrieren möchte, wer das Risiko einer Meeresüberfahrt auf einem dieser Seelenverkäufer auf sich nimmt, hat schon ein hohes Maß an Risikobereitschaft und Einsatz gezeigt, das so manchem Ureinwohner unserer Länder abgeht.
Kontrollen der illegalen Einwohner sind notwendig - das sei sofort gesagt, auch strenge. Unter den 5000 Tunesiern auf der Insel sind sicher auch welche, die man sofort zurückschicken sollte. Umso verwunderlicher ist es, dass die italienische Polizei dem Ganzen so völlig tatenlos zuschaut. Ein Schelm, wer dabei nicht an Böses denkt. Doch es ist eine Minderheit, eine kleine zumal. Und eines wissen wir ja längst: Der Einwanderungsdruck aus den arabischen Ländern wird zunehmen. Das sind in den allermeisten Fällen keine "Schläfer" oder Gangster, sondern verzweifelte Menschen, die eine neue Heimat suchen, Arbeit und Demokratie.
Quelle: ntv.de