Ukraine nach dem Volksaufstand "Die Opposition kümmert sich nur um Posten"
23.02.2014, 15:30 Uhr
Maidan-Aktivisten bewachen das Parlament. Auf die Abläufe im Inneren des Gebäudes haben sie nur bedingt Einfluss.
(Foto: imago/UPI Photo)
Unter der Protestbewegung in Kiew hat die Desillusionierung bereits begonnen. Auf dem Maidan geht die Sorge um, dass die Opposition gar kein Interesse daran hat, das Land grundlegend zu reformieren. Die Spaltung der Ukraine ist eine reale Gefahr, sagt Kyryl Savin, Leiter des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Kiew.
n-tv.de: Gestern haben Sie gesagt, Sie würden noch zu der Residenz von Janukowitsch am Rand von Kiew fahren. Waren Sie dort?
Kyryl Savin: Ja.
Was war Ihr Eindruck?
Naja, einerseits ist das Anwesen ziemlich geschmacklos. Andererseits ist es riesig. Es ist schon unglaublich, wie sich ein Mensch eine so große Residenz bauen kann. Wozu eigentlich, fragt man sich.
Die Residenz ist nicht geplündert worden.
Gestern jedenfalls nicht. Ich war bis fünf Uhr nachmittags da, da war alles friedlich.
Ist es auch in der Innenstadt von Kiew friedlich?
Ja, aber zugleich sehr angespannt. Sehr vielen Leuten auf dem Maidan macht große Sorge, was heute im Parlament geschehen ist: Die Opposition kümmert sich erst einmal nur um Posten und um Rache an der Partei der Regionen. Die grundlegenden Reformen, für die die Leute auf den Maidan gegangen sind, finden nicht statt. Unter den zivilgesellschaftlichen Aktivisten, die die Proteste in Gang gesetzt haben, herrscht große Unzufriedenheit.
Was wünschen die sich denn für Reformen?
Sie fordern, dass vorbelastete Parteigänger des Regimes aus der Politik und aus öffentlichen Ämtern entfernt werden. Das betrifft auch die Opposition. Man will neue Gesichter, man will neue Spielregeln, man will die Oligarchen verjagen. Man träumt von einer neuen Ordnung, aber es gibt keine Mechanismen, wie man die einführen kann.
Das klingt nach Revolutionsromantik.
Es ist zum großen Teil Revolutionsromantik. Vieles, was von den Demonstranten heute gefordert wird, ist nicht realistisch - oder jedenfalls nicht so schnell realisierbar. In den vergangenen Tagen ist so viel passiert, dass man jetzt die Erwartung hat, die Ereignisse müssten sich weiter so dynamisch entwickeln. Andererseits: Was im Parlament passiert, ist wirklich ernüchternd. Die Opposition kommt an Ämter und Posten, kümmert sich aber nicht darum, die Spielregeln zu verändern.
Sie haben gesagt, der Maidan will das alte System der Oligarchen nicht. Aber am Samstagabend ist Julia Timoschenko dort sehr bejubelt worden.
Ich hatte da einen anderen Eindruck. Im Vergleich zu dem, was wir vor drei Jahren erlebt haben, als Frau Timoschenko noch nicht im Gefängnis war, war das sehr mäßig. Es gibt jetzt viele Aufrufe, dass sie auf keinen Fall in die Politik zurückkehren soll. Natürlich begrüßen es alle, dass Julia Timoschenko frei ist, denn der Prozess gegen sie war sehr willkürlich. Aber das heißt nicht automatisch, dass sie hohe politische Ämter bekommen soll.
Oleg Tjagnibok von der rechten Partei Swoboda und auch Vitali Klitschko als Chef der Ukrainischen Demokratischen Allianz für Reformen (Udar) sprechen jetzt sehr respektvoll von Timoschenko. Das klingt so, als könne sie die gemeinsame Kandidatin der Opposition bei der Präsidentschaftswahl werden.
Sie könnte sogar Übergangsministerpräsidentin werden. Die Abstimmung findet wahrscheinlich am Montag statt. Ja, die Opposition spricht respektvoll über Timoschenko, weil alle wissen, dass sie sehr viel Erfahrung hat, dass sie politisches Gewicht hat. Und weil sie das Gefühl haben, dass sie ihr etwas schulden. Als Timoschenko im Gefängnis war, hat sich die Opposition kaum um sie gekümmert. Ich glaube, viele Oppositionelle haben ein sehr gespaltenes Gefühl gegenüber Timoschenko.
Das Parlament hat heute Alexander Turtschinow von Timoschenkos Vaterlandspartei zum Übergangspräsidenten gewählt.
Er ist Parlamentspräsident, Staatspräsident und de facto Regierungschef. Diese Ämterhäufung ist auch so ein Punkt, der für Kritik sorgt.
Was ist das für ein Mann?
Turtschinow ist die rechte Hand von Timoschenko, ein Mann, der schon ewig in der ukrainischen Politik ist. Er war immer an Timoschenkos Seite, hat aber null Charisma. Er ist sehr umstritten, auch weil er Baptist ist, was in der Ukraine ziemlich ungewöhnlich ist. Er ist aber auch kein lupenreiner Demokrat, wie man so schön sagt. Turtschinow tendiert eher zu autoritären Lösungen.
Klitschko hat die Selbstverteidigungskräfte vom Maidan aufgerufen, weiter auf der Straße zu bleiben. Timoschenko hatte sich zuvor bereits ähnlich geäußert. Ist das ein Anbiedern an die Basis?
Ich glaube, das ist ein Zeichen, dass innerhalb der alten Opposition schwere Kämpfe beginnen. Der Maidan wird von der bisherigen Opposition als Instrument der Legitimisierung benutzt. Die Demonstranten sollen bleiben, damit der Eindruck gepflegt werden kann, sie wären es, die entscheiden, was gut und was böse ist.
Was wäre Ihrer Meinung nach das beste Szenario für die Ukraine?
Schwer zu sagen. Das beste Szenario wäre wohl, dass die Politiker endlich verstehen, dass jetzt nicht die Zeit ist für kleine Kämpfe. Jetzt gilt es, eine Spaltung des Landes zu verhindern. Im Parlament wurde heute zum Beispiel das Sprachengesetz aus dem Jahr 2012 zurückgenommen, das dem Russischen in manchen Regionen den Status einer offiziellen Sprache verschafft hatte. Für den Südosten der Ukraine ist das ein sehr schlechtes Zeichen. Zweitens muss die Politik dafür sorgen, dass wir so rasch wie möglich zu Rechtsstaatlichkeit kommen. Im Moment besteht ein Machtvakuum, man beobachtet relativ viel Willkür, sowohl auf der Straße als auch im Parlament. Und schließlich braucht man jetzt eine Strategie, wie das alte System abgebaut und ein neues politisches System aufgebaut wird.
Der Moskauer Korrespondent des "Wall Street Journal" hat ein Bild getwittert, das zeigen soll, wie sich russischsprachige Einwohner von Simferopol rekrutieren lassen, um nötigenfalls die Krim zu verteidigen. Glauben Sie, dass die Krim zu Russland zurückkehren wird?
Noch gestern hätte ich gesagt, dass das kaum wahrscheinlich ist. Aber wenn die Opposition weiter solche Fehler macht wie heute bei der Entscheidung über das Sprachengesetz, dann ist die Gefahr groß, dass sich die Krim von der Ukraine abspaltet.
Mit Kyryl Savin sprach Hubertus Volmer
Quelle: ntv.de