Dutzende Tote bei Anschlägen in Grenzort Türkei verdächtigt Assads Geheimdienst
11.05.2013, 18:22 Uhr
Noch immer steigt die Zahl der Toten.
(Foto: REUTERS)
Noch ist unklar, wer hinter den verheerenden Anschlägen in der Türkei steckt, bei denen mindestens 40 Menschen sterben. Der türkische Vize-Regierungschef Arinc stellt allerdings fest: Der syrische Geheimdienst und die Streitkräfte von Präsident Assad gehören zum Kreis der Verdächtigen. Wird der Syrienkrieg zu einem Flächenbrand?
Nach den Anschlägen im türkischen Grenzort Reyhanli hat die Regierung in Ankara die Opferzahlen weiter nach oben korrigiert. Inzwischen geht das Innenministerium von mindestens 40 Toten und etwa hundert Verletzten aus, wie der türkische Sender NTV berichtete. Zuvor waren zwei Autobomben nahe eines wichtigen Grenzübergangs nach Syrien explodiert, der schon im Februar Schauplatz eines ähnlichen Attentats war.
Innenminister Muammer Güler räumte laut NTV ein, dass die Opferzahlen noch steigen könnten. Mindestens 29 Verletzte befinden sich demnach in ernstem Zustand. Rettungskräfte suchten in Gebäudetrümmern nach möglichen Überlebenden. Mehr als ein Dutzend Rettungswagen und -hubschrauber seien zur Behandlung von Verletzten vor Ort, berichtete NTV. Das Rathaus von Reyhanli sei durch die Wucht der Detonation schwer beschädigt worden.
Zwei mit Sprengstoff präparierte Fahrzeuge waren gegen 13.55 Uhr Ortszeit vor dem Rathaus und dem Postgebäude der 60.000-Einwohner-Stadt explodiert, wie Anadolu berichtete. Örtlichen Medien zufolge wurden mehrere Fahrzeuge völlig zerstört, in umliegenden Gebieten sei der Strom ausgefallen.

Knapp 50 Kilometer bis Aleppo: Reyhanli liegt direkt an der türkisch-syrischen Grenze.
(Foto: stepmap.de)
Die Hintergründe der Anschläge liegen noch im Dunkeln. Wenige Kilometer von Reyhanli entfernt befindet sich jedoch der von syrischen Rebellen kontrollierte Grenzposten Bab al-Hawa und der türkische Übergang Cilvegözü, auf den schon im Februar ein Autobombenanschlag mit 17 Toten verübt wurde. Für das Attentat machte Ankara den syrischen Geheimdienst verantwortlich.
Steckt Damaskus hinter dem Blutbad?
Und auch diesmal gehören der syrische Geheimdienst und die Streitkräfte von Präsident Baschar al-Assad zu den Verdächtigen, wie der türkische Vize-Regierungschef Bülent Arinc dem Sender NTV sagte. Angesichts der Schwere und Heimtücke des Attentats werde auch in diese Richtung ermittelt, allerdings seien die Untersuchungen noch in einem frühen Stadium.
Außenminister Ahmet Davutoglu warnte, die Türkei werde "solche Provokationen in unserem Land nicht zulassen". Mit Blick auf die bevorstehende Reise von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan nach Washington und angesichts der laufenden Bemühungen zur Beilegung des Syrien-Konfliktes deutete er an, die Anschläge seien sicherlich "kein Zufall".
Erst gerade hat Ankara den Kurs gegen Assad verschärft. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan sagte in einem Interview mit dem US-Sender NBC, die von den USA gezogene rote Linie zum Einsatz von Chemiewaffen sei von Syriens Regime längst überschritten und forderte Washington zum Handeln auf.
Die syrische Opposition verurteilte die Anschläge in einer Stellungnahme als "verzweifelten und vergeblichen Versuch, Zwietracht zu säen". Das türkische Volk habe seine syrischen Nachbarn "ehrenhaft unterstützt" und solle dafür offenbar bestraft werden. Die Türkei beherbergt 300.000 Bürgerkriegsflüchtlinge, aber auch Rebellen-Kämpfer. Allein in Reyhanli leben tausende Syrer, die vor dem Bürgerkrieg in ihrer Heimat geflüchtet sind.
Syrische Revolutionsaktivisten warnten vor möglichen Übergriffen auf Syrer im Grenzgebiet. Sie riefen über Twitter alle in Reyhanli lebenden Flüchtlinge dazu auf, ihre Häuser nicht zu verlassen. Tatsächlich riefen die Anschläge Panik in Reyhanli hervor und führten zu Spannungen zwischen einheimischen Jugendlichen und syrischen Flüchtlingen: Polizisten gaben Warnschüsse ab, um die Menge auseinanderzutreiben.
Bürgerkrieg erreicht Nachbarländer
Der Krieg in Syrien droht seit längerem, sich zu einem regionalen Konflikt auszuwachsen. Auch in der Grenzregion im Libanon und auf den Golanhöhen kommt es fast täglich zu Kämpfen zwischen Regierungstruppen und Aufständische n.
Eine militante Palästinenser-Gruppe in der syrischen Hauptstadt Damaskus kündigte nun auch an, die von Israel besetzten Golanhöhen zurückerobern zu wollen. Zu diesem Zweck würden derzeit Kampfbrigaden zusammengestellt, erklärte die Volksfront für die Befreiung Palästinas-Generalkommando. Alle Syrer seien als Freiwillige willkommen. Präsident Baschar al-Assad und zuvor sein 30 Jahre regierender Vater hatten trotz eines offiziell bestehenden Kriegszustandes mit Israel die Grenze in Ruhe gelassen.
Nach den jüngsten israelischen Angriffen auf mutmaßliche Waffentransporte in Syrien hat Assad den Ton jedoch geändert. In staatlichen Medien wurde er mit den Worten zitiert, er werde den Golan in eine "Widerstandsfront" verwandeln und Kämpfern von diesem Gebiet aus Angriffe auf Israel gestatten. Die libanesische Hisbollah kündigte an, sich an einem solchen Vorhaben beteiligen zu wollen.
In Folge des Bürgerkriegs in Syrien kommt es auch in der an die Golanhöhen grenzenden Region in Syrien täglich zu Kämpfen zwischen Regierungstruppen und Aufständischen. Der Krieg in Syrien droht seit längerem, sich zu einem regionalen Konflikt auszuwachsen.
Iran warnt Damaskus
Der iranische Außenminister Ali Akbar Salehi warnte indes vor dem Einsatz von Chemiewaffen im syrischen Bürgerkrieg. Der Iran sei im Krieg mit dem Irak selbst mit Giftgas angegriffen worden, sagte Salehi dem Magazin "Spiegel". "Wir verdammen Chemiewaffen", fügte er hinzu. Auf die Frage, ob der Iran seine Unterstützung für Assad aufgeben würde, sollte sie Giftgas einsetzen, sagte Salehi: "Wir sind entschieden gegen Massenvernichtungswaffen jeder Art."
US-Präsident Barack Obama hatte einen Chemiewaffeneinsatz in Syrien in der Vergangenheit als "rote Linie" für ein mögliches Eingreifen in den Bürgerkrieg bezeichnet. Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan forderte Washington am Freitag zum Handeln auf. US-Außenminister John Kerry sprach von "starken Beweisen" für einen Chemiewaffeneinsatz durch syrische Regierungstruppen gegen die Rebellen im Land. Noch im Mai soll auf Initiative der USA und Russlands eine internationale Konferenz zu dem Konflikt in Syrien stattfinden.
Konferenz verzögert sich
Die von Russland und den USA vereinbarte internationale Syrien-Konferenz wird vermutlich nicht vor Juni stattfinden. Ein russischer Regierungsvertreter, der namentlich nicht genannt werden wollte, sagte am Samstag, ein Termin im Mai sei nicht mehr machbar. Russische Medienberichten zufolge herrscht auch Uneinigkeit darüber, wer an der Konferenz teilnehmen soll. Zwar seien sich alle einig, dass die Lage in Syrien ernst sei, meldete die Nachrichtenagentur Itar-Tass unter Berufung auf russische Regierungskreise. "Darüber hinaus gibt es aber sehr viele Differenzen: Wer an dem Treffen teilnehmen darf, wer legitim und wer nicht legitim ist."
Die USA und Russland hatten am Dienstag angekündigt, eine Friedenskonferenz organisieren zu wollen. Sie solle noch in diesem Monat stattfinden. Eine diplomatische Lösung des seit mehr als zwei Jahren anhaltenden Konflikts ist bislang nicht in Sicht. Die Regierung in Moskau unterstützt Syriens Präsident Baschar al-Assad und hat zusammen mit China im UN-Sicherheitsrat mehrere Syrien-Resolutionen verhindert. In dem Bürgerkrieg sind mehr als 70.000 Menschen ums Leben gekommen, mehr als eine Millionen Syrer sind in die Nachbarländer geflohen.
Quelle: ntv.de, hah/ghö/rts/AFP