Kommentare

Der Sieg des großen Vereinfachers Erdogan geht es nicht um Glauben und Terror

Erdogan versucht eine Mehrheit zu konstruieren, die ihm die Wähler in der Türkei bisher versagt haben.

Erdogan versucht eine Mehrheit zu konstruieren, die ihm die Wähler in der Türkei bisher versagt haben.

(Foto: REUTERS)

Erdogan kann diesen Tag als Triumph feiern. Seinem Ziel, auch Kraft Verfassung übermächtiger Präsident zu sein, kommt er ein Stück näher. Fraglich ist, wie lange er sich darüber freuen kann.

Politische Erzählungen können gewaltige Wirkungen entfalten. Leider gehören Erzählungen, die die Welt maximal vereinfachen, zu den stärksten. George W. Bushs "Achse des Bösen" ist wohl das treffendste Beispiel.

Aber auch die Erzählung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan gehört in diese Kategorie.

Mit einem sehr simplen Bild der Welt hat Erdogan es gerade geschafft, das türkische Parlament dazu zu bringen, sich selbst zu entmachten. Es stimmte dafür, die Immunität von 138 Abgeordneten aufzuheben. Eine Initiative von Erdogan und seiner AKP, die aber auch Abgeordete der links-laizistischen CHP und der ultranationalistischen MHP mitgetragen haben.

Der Präsident hat diesen Schritt vor allem aus einem Grund forciert: aus Machthunger. Er will in der Türkei ein Präsidialsystem mit ihm selbst an der Spitze etablieren. Durch die Aufhebung der Immunität einiger Abgeordneter versucht er, die dafür notwendigen Mehrheiten im Parlament zu konstruieren, die ihm die türkischen Wähler bisher versagt haben.

Das Gros der insgesamt 550 Parlamentarier in der Großen Nationalversammlung nahm ihm allerdings ab, dass es ihm bei der Immunitätsaufhebung in Wirklichkeit um den Kampf gegen den Terrorismus und die Rolle des Islams im Staate ging.

Der "fromme" Präsident

Seine Anhänger gewinnt Erdogan seit jeher mit dem Versprechen, sich für die Interessen der Muslime einzusetzen. Er forderte die Erlaubnis, dass Frauen an Universitäten Kopftuch tragen dürfen. Er stärkte den Religionsunterricht im Bildungsystem. Er schlug vor, die Arabische Liga in "Islamische Liga" umzutaufen und die alten Rivalitäten zwischen Schiiten und Sunniten zu überwinden. An sich können das alles hehre Ziele sein, solange sie nicht auf Kosten Andersgläubiger gehen. Nur ist Erdogan bei weitem nicht so fromm wie er suggeriert. In seinem Machtapparat grassiert Korruption. Und auf internationaler Bühne gehört er eher zu denen, die Zwietracht in der muslimischen Welt säen.

Selbst einige von denen, die sich gegen die Immunitätsaufhebung stellten, nahmen ihm aber seine Mär vom religiösen Präsidenten ab, der für seine so lange unterdrückten Glaubensbrüder kämpft. Oder sie inszenierten es zumindest so, um ihre eigene plumpe Erzählung voranzutreiben.

Kurz vor der ersten Abstimmung über die Immunität zumindest verließ eine Reihe von Abgehordneten der CHP den Saal. Die Männer und Frauen riefen: "Die Türkei ist laizistisch und wird laizistisch bleiben." Als ob es darum gegangen wäre.

"Terroristen mit Stiften"

Einer noch gröberen Vereinfachung erlagen die CHP- und MHP-Abgeordneten, die Erdogans Initiative die notwendige Mehrheit verschafften. Als Hauptgrund für den Wunsch nach Aufhebung der Abgeordneten-Immunität brachte die AKP den Kampf gegen Terrorismus vor. Erdogan sagte dazu kürzlich: "Zwischen Terroristen, die Waffen und Bomben tragen, und jenen, die ihre Positionen, ihren Stift oder ihren Titel den Terroristen zur Verfügung stellen, damit diese an ihr Ziel gelangen, besteht überhaupt kein Unterschied." Gemeint waren damit nicht nur kritische Journalisten, sondern auch die Abgeordneten der kurdischen HDP.

Die sind Erdogan lästig, weil ihr politischer Erfolg ihm bisher eine verfassungsändernde Mehrheit im Parlament blockiert hat. Seit ihrem Aufstieg tut Erdogan deshalb so, als sei die HDP der politische Arm der verbotenen PKK. Alle Maßnahmen gegen die HDP stellt er seither als Kampf gegen den Terrorismus dar. Und kann sich darauf verlassen, dass man ihm glaubt. Nach dem Motto: Gegen den Anti-Terrorkampf wird schon niemand etwas einwenden.

Dass die nationalistische MHP sich so einfangen lässt, verwundert nicht so sehr. Etlichen Abgeordneten der Partei wäre es vermutlich lieb, wenn überhaupt keine Kurden eine Rolle in der türkischen Politik spielen würden. Doch dass dabei auch CHP-Leute mitgingen, macht einmal mehr die Stärke politischer Schwarz-Weiß-Malerei deutlich.

Erdogan kann diesen Tag heute als Sieg feiern. Doch auch für seine Erzählung dürfte am Ende gelten, was auch für die Erzählung von der "Achse des Bösen" gilt. Eine Politik, die auf solchen Märchen beruht, mag ein paar Jahre Bestand haben. Dann fällt sie in sich zusammen – schmerzhaft für alle Beteiligten.

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen