Fußball-WM 2019

Frauen, Fußball, Folklore WM-Wahnsinn in Wolfsburg

Frauen und Bier - det lob ick mir!

Frauen und Bier - det lob ick mir!

(Foto: dapd)

Fast 74.000 Menschen machen im Berliner Olympiastadion das Eröffnungsspiel der WM zu einem fröhlichen Fest. Deutschland schlägt Kanada mit 2:1, alles prima, der perfekte Auftakt. Doch wie geht es weiter, zum Beispiel 228 Kilometer weiter westlich? Zum Beispiel in Wolfsburg?

15.58 Uhr. Bahnhofsvorplatz Wolfsburg. Noch zwei Stunden bis zum Spiel. Ein mexikanischer Sombrero entert unter lautem Gejohle und in Begleitung von vier Freunden mit schwarz-rot-goldenen Klatschhänden den Shuttle-Bus zum Stadion, steigt aber kurz darauf samt Gejohle und Gefolge wieder aus – um lieber noch am Wolfsburger Hauptbahnhof vorzuglühen. Eine Gruppe junger Frauen kommt ihnen entgegen. "Guck mal, die Italiener." WM-Wahnsinn in Wolfsburg. Herzlich Willkommen.

So sieht der Wahnsinn aus.

So sieht der Wahnsinn aus.

(Foto: REUTERS)

16.13 Uhr. WM-Stadion. Der Kartenverkäuferin liegen die Worte "mindestens Zehntausend" auf der Zunge, aber sie schwenkt noch um: "Sagen wir lieber, es gibt noch sehr, sehr viele Tickets." Der WM-Wahnsinn hat den Weg zur Arena noch nicht gefunden. Vielleicht, weil der Bus zu weit ab vom Stadion hält, wie ein älterer Herr schwitzend moniert?

16.22 Uhr. Innenstadt. Der Weg zur Fanmeile auf dem Hugo-Bork-Platz in der Fußgängerzone ist zum Glück ausgeschildert, in Orange, der Signalfarbe dieser Weltmeisterschaft. Die Meile erweist sich als Quadrat vor der City-Galerie, einem dieser modernen Einkaufszentren, wie es sie überall gibt. Mittelpunkt ist das zweistöckige WM-Café mit einer Bühne davor. Aber wer ist Hugo Bork? Wolfsburgs Meistertrainer?

16.25 Uhr. WM-Stadion. Nach einer kleinen Odyssee durch das Wolfsburger Stadion ist der Zugang zum Pressezentrum nur noch eine Tür entfernt, doch WM-Maskottchen Karla Kick steht im Weg. "Jetzt müsste man nur noch wissen, wer unter dem Kopf steckt", scherzt ein Ordner. Und guckt verdattert, als Karla mit Männerstimme antwortet: "Osama bin Laden."

16.30 Uhr. Fanquadrat. Auf der Bühne spielt eine Coverband in weißen Hemden und schwarzen Krawatten Klassiker der Beatles. Das Café ist voll, die Menschen amüsieren sich. Viele tragen Deutschland-Trikots. Eine Gruppe Italiener skandiert: "Mechiko, Mechiko, ra-ra-ra!" Auf sechs Bildschirmen läuft Fußball, Japan spielt gegen Neuseeland. Guckt aber keiner hin. Großbildleinwand gibt’s nur, wenn Deutschland spielt.

Ist das Hugo Bork?

Ist das Hugo Bork?

(Foto: dapd)

16.30 Uhr. WM-Café. Zwei Männer mittleren Alters in beigen Polo-Shirts. Der eine schaut auf seine Armbanduhr. "Um 18 Uhr ist ja Anpfiff." Schweigen. "Hoffe, dass sich da noch etwas tut auf dieser Fan-Meile."

16.55 Uhr. Vor der WM-Bühne. Wir hätten einen Tag früher kommen sollen. Zur Eröffnung des Fan-Quadrats am Sonntag waren Karla Kick und Roy Präger, Ex-Stürmer des VfL Wolfsburg da. Mist. Warum läuft hier eigentlich nicht "Fiesta Mexicana"? Und wo ist Hugo Bork?

17.17 Uhr. WM-Bühne. Das spezielle länderspezifische Programm schreitet unaufhaltsam fort. Immer noch nix "Fiesta Mexicana", dafür Folklore, mexikanisch, vor 200 Besuchern. Die Gruppe "Eldorado" aus Berlin. Männer mit weißen Hemden und roten Tüchern statt Krawatten. Zwei Frauen spielen Geige, schwarzhaarige Damen tanzen davor in bunten Röcken. Applaus.

17.30 Uhr. WM-Stadion. Die Mannschaften werden vorgestellt und es ist erstmals lauter als leise. Auch Schiedsrichterin Silvia Reyes aus Peru scheint beim Wolfsburger Publikum äußerst beliebt zu sein. Euphorie-Level: Tagesrekord, aber ausbaufähig.

17.45 Uhr. WM-Café. Die Damen und Herren der deutsch-mexikanischen Gesellschaft Wolfsburg e.V. sind noch nicht am Platz. Ihr Tisch ist so leer wie der Gesichtsausdruck von Goleo.

17.55 Uhr. WM-Stadion. Die Hymnen werden gespielt, Mexiko feiert den ersten Erfolg. Endlich sind die deutschen Ballkinder mal nicht fast ebenso groß wie die Spielerinnen. Die Zuschauer wissen das zu goutieren. Der Stadionsprecher hat dennoch Mühe, die halbgefüllte Arena nicht zu übertönen.

Lieber Füße hoch als gut sehen.

Lieber Füße hoch als gut sehen.

(Foto: dpa)

18.00 Uhr. WM-Café. "Viva Mexico!" Das Spiel beginnt. Dafür hat die Folklore ein Ende. Die Beatles haben sich auch aus dem Staub gemacht.

18.10 Uhr. WM-Café. "Die Mexikanerinnen bewegen sich wieselflink." Sagt der Mann im Fernsehen über die sechs Wolfsburger Bildschirme. Die Menschen auf dem Fan-Quadrat nehmen es zur Kenntnis, einige von ihnen bestellen mehr Bier. Die deutsch-mexikanische Gesellschaft ist immer noch nicht da. Wahrscheinlich doch im Stadion. Keine Spur von Hugo Bork.

18.21 Uhr. WM-Stadion/WM-Café. Ecke für England, Tor für England. Fara Williams köpft aus zehn Metern über eine zu kleine Mexikanerin die Führung,. Das Stadion tastet sich vorsichtig an so etwas Ähnliches wie Euphorie heran. Im WM-Quadrat wühlt das niemanden groß auf. Reaktionen: keine. Doch! Eine Tröte trötet. Dafür leert sich der Platz zusehens.

18.27 Uhr. WM-Café. Louis, drei Jahre alt, ist unzufrieden. Die Oma muss beschwichtigen. "Karla Kick ist nicht da. Ich hab sie nirgendwo gesehen." Sagen wir ja: Wir hätten am Sonntag hier sein sollen. Louis weint und will nach Hause. Mama sagt: "Es ist ihm hier zu laut."

18.31 Uhr. WM-Stadion. Schluss mit Euphorie, jetzt wird gepfiffen. Nach einer Freistoßkombination, bei der zwei Engländerinnen geschickt antäuschen und die dritte ungeschickt weit über das Tor schießt. Das Publikum giert nach weiteren Toren, doch wenn einer der vielen Fehlpässe die Chance auf eine Chance eröffnet, macht der nächste Fehlpass sie umgehend zunichte.

18.33 Uhr. WM-Stadion/Quadrat. Ob Karen Bardsley jetzt bereut, vor dem Spiel mit dem englischen "Guardian" gesprochen zu haben? Der hatte von ihr wissen wollen, wie das denn heutzutage so sei mit den Torhüterinnen im Frauenfußball und Barsdley hatte gesagt, es sei natürlich viel, viel besser als früher. So gut ist es dann aber doch nicht, sonst wäre der haltbare Schuss von Monica Ocampo für Bardsley, Englands Keeperin, aus 30 Metern nicht unhaltbar gewesen. Dem Stadion ist es egal, es feiert das schönste Tor des Turniers. Das WM-Café klatscht vor Freude in die Hände. Wolfsburg lebt und legt sich fest: Pro Mexiko. Könnte an der Folklore liegen. Wo ist Louis?

Die WM sorgt für einen Job-Boom. Etwa als Fußball verkleidet Zettelchen verteilen.

Die WM sorgt für einen Job-Boom. Etwa als Fußball verkleidet Zettelchen verteilen.

(Foto: dapd)

19.09 Uhr. WM-Stadion. Der Ball liegt drei Meter vor dem mexikanischen Tor. Die Engländerin Eniola Aluko müsste ihn nur noch über die Linie stubsen. Doch sie trifft nicht den Ball, sondern nur die Luft darüber. Das Spiel bietet damit jetzt das schönste Tor des Turniers und die schönste vergebene Torchance. Ob sich "der Kerstin" das gefallen lässt?

19.25 Uhr. WM-Stadion. Die WM-Stimmung ist da. Gerade, als sich vier Sanitäter auf den Weg zur verletzten mexikanischen Starstürmerin Maribel Dominguez machen, klappt es endlich mit der ersten Welle des Abends. Gleich mehrmals schwappt sie durchs Stadion, die "Mechiko, Mechiko"-Schreie werden spitzer. Nur Dominguez kann nicht weiterspielen.

19.33 Uhr. WM-Stadion. Der Stadionsprecher verkündet die offizielle Zuschauerzahl. 18.702 Fans feiern sich selbst. 15 Minuten später feiern sie den Abpfiff und treten, noch klatschend, sofort den Heimweg an.

19.55 Uhr. WM-Quadrat. Wikipedia weiß alles. Hugo Bork ist Ehrenbürger der Stadt Wolfsburg, seit 1998 tot und davor mal Betriebsratsvorsitzender bei VW und Oberbürgermeister gewesen. Wahnsinn.

Quelle: ntv.de

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