Politik

Die Empörungswelle rollt Ich lasse mir meine Solidarität nicht verbieten

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(Foto: REUTERS)

Wen die Anschläge in Paris erschüttern, muss sich einen bizarren Vorwurf gefallen lassen: Er trauere nicht um andere Opfer. Was soll das?

Gibt es einen Ort, an dem man sich für Solidarität und sogar Trauer rechtfertigen muss? Ja, den gibt es. Er heißt Facebook. Dort stören sich Leute allen Ernstes daran, dass andere nach den Anschlägen in Paris ihr Profilbild mit einer Trikolore unterlegen oder "Je suis Paris" posten. Meinen sie das tatsächlich ernst?

Ja, das meinen sie. Ihr Vorwurf: Es sei bigott und falsch, angesichts der Anschläge Betroffenheit auszudrücken – und gleichzeitig nicht um die Opfer anderer Gewaltakte zu trauern. "Wo war eure Trauer und eure Entrüstung nach den jüngsten Anschlägen in Beirut?", fragen sie. "Wo war eure Solidarität mit den Russen, die über Ägypten in einem Ferienflieger starben?"

Das ist so, als würde man jemandem, der für "Ärzte ohne Grenzen" spendet, unterstellen, andere Hilfsorganisationen seien ihm egal. Oder dass man um seinen toten Vater trauert und nicht um den toten Vater seiner Nachbarin.

Der Vorwurf ist nicht nur absurd, er ist fast schon perfide. Die Trauer um die Opfer in Paris bedeutet doch nicht, dass einem andere Menschen gleichgültig sind. Das Entsetzen bedeutet doch nicht, dass das Leben eines Franzosen mehr wert ist als das eines Russen oder eines Libanesen. Und es bedeutet nicht, dass die Anschläge in Beirut nicht fürchterlich sind.

Ja, den meisten Menschen in Deutschland ist Paris näher als Beirut. Was soll daran falsch sein? Viele haben die Hauptstadt unseres Nachbarlandes besucht, manche haben die Sprache in der Schule gelernt. Einige haben dort Freunde oder Familie. Die Opfer könnten unsere Verwandten und Bekannten sein. Es fällt uns leicht, uns in diese Menschen hineinzuversetzen. Deshalb fühlen sich ihnen viele Deutsche näher als den Einwohnern Beiruts, Bangkoks oder sogar Moskaus. Und Libanesen sind von den Anschlägen im eigenen Land natürlich viel stärker betroffen als von den Ereignissen in Frankreich. 

Noch etwas: Die Terroristen haben mit Paris unseren Lebensentwurf angegriffen. Die Hauptstadt unseres Nachbarlandes verkörpert, was sie hassen und wir lieben: Das urbane Leben mit seiner Toleranz, seiner Vielfalt. Die französische Republik steht für die Eckpfeiler unseres Staatsverständnisses. Für Freiheit, für Demokratie – und für die Trennung von Kirche und Staat.

Hinter der Empörung über die Trauer und die Solidarität stehen dagegen Beliebigkeit und Relativismus. Wenn die Trauer um jeden Menschen gleich sein muss, ist sie entwertet. Dann ist der Tod eines jeden Menschen völlig belanglos angesichts der Schreckensnachrichten, die uns Tag für Tag ereilen.

Jeder darf trauern, wie und um wen er will. Jeder darf seine Solidarität ausdrücken. Was für eine Anmaßung, das anderen nicht zuzugestehen.

Quelle: ntv.de

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